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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten
Autoren: Erich Maria Remarque
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gegenübersitzt, der ihn aus Österreich ausweisen wird, reflektiert »das winzige, flackernde Fünkchen Leben Ludwig Kern«, das »Sehnsucht nach Menschen und Angst vor Menschen« hat, den Unterschied zwischen den »bürgerlich Toten« und den lebenden Bürgern:
       Dieser Mann würde in zwei Stunden seinen Schreibtisch ab
       schließen und zum Abendessen gehen… Nach Hause. (S. 23) Kern fährt fort:
       Und all das nur, weil ihn und den gelangweilten Beamten hin
    ter dem Schreibtisch ein Stück Papier trennte, Paß genannt.
    Ihr Blut hatte die gleiche Temperatur, ihre Augen hatten die
    gleiche Konstruktion, ihre Nerven reagierten auf die gleichen
    Reize, ihre Gedanken liefen in den gleichen Bahnen – und
    doch trennte sie ein Abgrund, nichts war gleich bei ihnen, das
    Behagen des einen war die Qual des anderen, sie waren Besit
    zender und Ausgestoßener, und der Abgrund, der sie trennte,
    war nur ein kleines Stückchen Papier, auf dem nichts weiter
    stand als ein Name und ein paar belanglose Daten. (S. 28).
    Das Paß-Thema durchzieht den ganzen Roman. »Namen müssen aufgeschrieben sein, sonst gehören sie einem nicht« (S. 08), sagt Kern später. Josef Steiner erwirbt den durch ein neues Bild verfälschten Paß eines Toten zum Zwecke neuer Identität und Schein-Legalität. In seiner Reflexion treibt er die ›Paß-Philosophie‹ auf einen zugleich realistischen wie absurden Höhepunkt:
       Johann Huber! Arbeiter! Du bist tot und verfaulst irgendwo
       in der Erde von Graz – aber dein Paß lebt und ist gültig für
       die Behörden … Tauschen wir, Johann Huber! Gib mir dein
       papiernes Leben und nimm meinen papierlosen Tod! Wenn die
       Lebenden uns nicht helfen, müssen es die Toten tun! (S. 02) Ludwig Kerns Gedanken verlieren »sich in Träumen«, als er der ersten Abschiebung über die tschechische Grenze im Zug entgegenrollt. Er träumt
       von einer Deputation feierlicher Menschen in Gehröcken,
       die einen Ehrenbürgerbrief überreichen, und von einem
       uniformierten Diktator, der ihn weinend kniefällig um Ent
       schuldigung bat. (S. 32)
    Der Traum Kerns erscheint auch wie der Traum Remarques, der schließlich 968 die Ehrenbürgerschaf seiner Gastgemeinden Ronco und Ascona erhielt.
      Remarques deutscher Paß hatte wohl schon vor 937 seine Gültigkeit verloren. Daher besorgte er für sich und seine geschiedene Frau Ilse-Jutta Zambona vom panamanesischen Konsulat in Tessaloniki einen Paß der Republik Panama, ausgestellt am 9. Juni 937, mit dem er reisen konnte. Mit der Ausbürgerung vom 7. Juli 938 ist auch Remarque für 9 Jahre ein »bürgerlich Toter«, der erst durch die US-Einbürgerung vom 7. August 947 wieder »papiernes Leben« erhält. 6
      Zahlreiche Äußerungen belegen, wie sehr er es begrüßt hätte, wenn nach 945 der Ausbürgerungsakt rückgängig gemacht worden wäre, wieviel das für ihn bedeutet hätte, der zeitlebens emotional Osnabrücker und Deutscher geblieben ist und der 962 in einem Interview sagt: »Ich stehe heute zu Deutschland genauso positiv wie je und immer.« 7
      Aber die Bundesrepublik Deutschland, Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, »erkennt noch immer den Verwaltungsakt der Ausbürgerung als rechtmäßig an«. Dies gilt für insgesamt
    39 006 Ausbürgerungen in der Zeit 933-945. 8
      Die in Art. 6 des Grundgesetzes gewählte Lösung der ›Wiedereinbürgerung‹ hält Remarque nicht für akzeptabel, eine Regelung, die von den Ausgebürgerten verlangte, wieder Wohnsitz in der Bundesrepublik zu nehmen oder einen Antrag auf Wiedereinbürgerung zu stellen. Remarque pflegte – auf die Frage seiner Wiedereinbürgerung angesprochen – ständig zu wiederholen: »Ich habe keinen Antrag auf Ausbürgerung gestellt, also werde ich auch keinen Antrag auf Einbürgerung stellen.« 9
      So bleibt das große Unrecht bis heute bestehen. Juristischer Sachverstand hätte sicher eine akzeptablere Lösung finden können, wenn man den Gefühlen von Menschen wie Erich Maria Remarque und anderen Emigranten mehr Gewicht hätte beilegen wollen.
      Immerhin schreibt heute das Grundgesetz, solange es denn in seiner jetzigen Form gilt, als Grundsatz vor: »Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden.« (Art. 6, Abs. , Satz ) Doch auch dieser Grundsatz kann »aufgrund eines Gesetzes« Einschränkungen erfahren, wobei dann garantiert sein muß, daß der
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