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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten
Autoren: Erich Maria Remarque
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ließ seine Sachen zu Boden rutschen. Sein linker Arm war taub von dem Schlag, der den Ellenbogen getroffen hatte. Der Mann im Hemd sah eine Sekunde lang so aus, als wolle er sich in das Dunkel auf die Stimme stürzen. Aber dann blickte er auf den Lauf des Revolvers, der ihm von einem zweiten Beamten gegen die Brust gehalten wurde, und hob langsam die Arme.
      »Umdrehen!« kommandierte die Stimme. »Ans Fenster stellen!«
      Die beiden gehorchten.
      »Sieh nach, was in den Taschen ist«, sagte der Polizist mit dem Revolver.
      Der zweite Beamte untersuchte die Kleider, die auf dem Boden lagen. »Fünfunddreißig Schilling – eine Taschenlampe – eine Pfeife – ein Taschenmesser – ein Lauskamm – sonst nichts …«
      »Keine Papiere?«
      »Paar Briefe oder so was …«
      »Keine Pässe?«
      »Nein.«
      »Wo habt ihr eure Pässe?« fragte der Polizist mit dem Revolver.
    »Ich habe keinen«, erwiderte Kern.
      »Natürlich!« Der Polizist stieß dem Mann im Hemd den Revolver in den Rücken. »Und du? Muß man dich extra fragen, du Hurenbankert?« sagte er.
      Die beiden Polizisten sahen sich an. Der ohne Revolver fing an zu lachen. Der andere leckte sich die Lippen. »Ah, da schau her, ein feiner Herr!« sagte er langsam. »Exzellenz, der Stromer! General Stinktier!« Er holte plötzlich aus und schlug dem Mann die Faust gegen das Kinn. »Hände hoch!« brüllte er, als der andere taumelte.
      Der Mann sah ihn an. Kern glaubte noch nie einen solchen Blick gesehen zu haben. »Dich meine ich, du Scheißer!« sagte der Polizist. »Wird’s bald? Oder soll ich dir dein Gehirn noch einmal aufschütteln?«
      »Ich habe keinen Paß«, sagte der Mann.
      »Ich habe keinen Paß«, äfe der Polizist nach. »Natürlich, Herr Hurenbankert hat keinen Paß. Konnte man sich ja wohl denken! Los, anziehen, aber flott!«
      Eine Gruppe Polizisten lief den Korridor entlang. Sie rissen die Türen auf. Einer mit Schulterstücken kam heran. »Was habt ihr denn da?«
      »Zwei Vögel, die übers Dach verdufen wollten.«
      Der Offizier betrachtete die beiden. Er war jung. Sein Gesicht war schmal und blaß. Er trug einen sorgfältig gestutzten, kleinen Schnurrbart und roch nach Toilettewasser. Kern erkannte es; es war Eau de Cologne 47. Sein Vater hatte eine Parfümfabrik gehabt, daher wußte er so etwas.
      »Die beiden werden wir uns besonders vornehmen«, sagte der Offizier. »Handschellen!«
      »Ist es der Wiener Polizei erlaubt, bei Verhafungen zu schlagen?« fragte der Mann im Hemd.
    Der Offizier sah auf. »Wie heißen Sie?«
    »Steiner. Josef Steiner.«
      »Er hat keinen Paß und hat uns bedroht«, erklärte der Polizist mit dem Revolver.
      »Es ist noch viel mehr erlaubt, als Sie denken«, sagte der Offizier kurz.
      »Marsch, ’runter!«
      Die beiden zogen sich an. Der Polizist holte Handschellen hervor. »Kommt, ihr Lieblinge! So, jetzt seht ihr schon besser aus. Passen wie nach Maß.«
      Kern spürte den Stahl kühl an seinen Gelenken. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er gefesselt wurde. Die Stahlreifen hinderten ihn beim Gehen nicht sehr. Aber ihm schien, als fesselten sie mehr als nur seine Hände.
      Draußen war es früher Morgen. Vor dem Hause hielten zwei Polizeiautos. Steiner verzog das Gesicht. »Begräbnis erster Klasse! Nobel, was, Kleiner?«
      Kern antwortete nicht. Er versteckte die Handschellen, so gut es ging, unter seinem Rock. Ein paar Milchkutscher standen neugierig auf der Straße. Gegenüber in den Häusern waren Fenster offen. Gesichter schimmerten wie Teig aus den dunklen Öffnungen. Eine Frau kicherte.
      Ungefähr dreißig Verhafete wurden auf die Wagen gebracht. Es waren offene Polizeiflitzer. Die meisten der Leute stiegen ohne ein Wort hinauf. Auch die Besitzerin des Hauses war darunter, eine dicke, hellblonde Frau von etwa fünfzig Jahren. Sie war die einzige, die erregt protestierte. Seit einigen Monaten hatte sie zwei leerstehende Etagen ihres baufälligen Hauses auf billigste Weise in eine Art Pension verwandelt. Es hatte sich bald herumgesprochen, daß man dort schwarz schlafen konnte, ohne bei der Polizei gemeldet zu werden. Die Frau hatte nur vier richtige Mieter mit polizeilicher Anmeldung – einen Hausdiener, einen Kammerjäger und zwei Huren. Die übrigen kamen abends, wenn es dunkel wurde. Fast alle waren Emigranten und Flüchtlinge aus Deutschland, Polen, Rußland und Italien.
      »Los, los!« sagte der
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