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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre
Autoren: James Salter
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waren naß«, verkündet er.
    »Ihre Beine?«
    »Ich glaube, sie war schwimmen.«
    »Also, Papa, wirklich.«
    »Sie hat versucht, an die Zwiebeln auf dem Grund zu kommen.«
    »Da gibt's keine Zwiebeln.«
    »Oh doch.«
    »Ehrlich?«
    »Genau da wachsen sie.«
    Sie erklären es einander vor der Tür. Es ist wahr, beschließen sie. Sie warten auf ihn, zwei kleine Mädchen, auf dem Boden kauernd wie Bettler.
    »Papa, komm raus«, sagen sie. »Wir wollen mit dir reden.« Er legt die Zeitung beiseite und sinkt ein letztes Mal in die Umarmung des Badewassers.
    »Papa?«
    »Ja. «
    »Kommst du raus?«
    Das Pony fasziniert sie. Sie haben Angst vor ihm. Sie sind immer kurz davor loszurennen, wenn es einen unerwarteten Laut von sich gibt. Geduldig, still steht es in seinem Stall; ein grasendes Tier, es frißt stundenlang. Seine Nüstern umgibt ein Kranz feiner Haare, seine Zähne sind braun.
    »Die Zähne hören nie auf zu wachsen«, hat der Mann, der sie ihnen verkauft hat, gesagt. Er war ein Trinker, seine Kleider waren zerrissen. »Sie wachsen immer nach und schleifen sich immer wieder ab.«
    »Was würde passieren, wenn sie nichts fressen würde?«
    »Wenn sie nichts fressen würde?«
    »Was würde mit den Zähnen passieren?«
    »Seht zu, daß sie frißt«, sagte er.
    Sie beobachten sie oft; sie horchen auf das Mahlen ihrer Kiefer. Dieses mythische Tier, man riecht seinen Duft im Dunkeln, ist größer als sie, stärker, klüger. Sie sehnen sich danach, sich ihm zu nähern, seine Liebe zu gewinnen.

2
    Es war im Herbst 1958. Ihre Kinder waren sieben und fünf. Das Licht ergoß sich auf den schieferfarbenen Fluß. Ein weiches Licht, Gottes Muße. In der Ferne schimmerte die neue Brücke wie eine Feststellung, wie eine Zeile in einem Brief, die einen aufhorchen läßt. Nedra war in der Küche bei der Arbeit, ihre Ringe hatte sie beiseite gelegt. Sie war hochgewachsen, beschäftigt; ihr Nacken war bloß. Wenn sie innehielt, um mit gesenktem Kopf ein Rezept zu lesen, war sie überwältigend in ihrer Konzentration, ihrer Hingebung. Sie hatte ihre Armbanduhr an, ihre besten Schuhe. Unter der Schürze war sie für den Abend gekleidet. Es kamen Leute zum Essen. Sie hatte die Stiele der Blumen, die auf der hölzernen Anrichte ausgebreitet waren, gekürzt und angefangen, sie zu arrangieren. Vor ihr lagen Schere, hauchdünne Käseschachteln, französische Messer. Auf ihren Schultern lag Parfum. Ich werde ihr Leben von innen nach außen beschreiben, von seinem Kern aus, auch das Haus, Zimmer, in denen sich Leben gesammelt hatte, Zimmer im morgendlichen Sonnenschein, die Böden bedeckt mit Orientteppichen, die ihrer Schwiegermutter gehört hatten, aprikosenfarben, rot und braun, Teppiche, die, obwohl sie abgenutzt waren, das Sonnenlicht zu trinken und seine Wärme in sich aufzunehmen schienen; Bücher, duftende Blütenblätter, Kissen in den Farben von Matisse, Dinge wie funkelnde Wahrheiten, von denen viele, hätten sie alten Völkern gehört, für das kommende Leben in die Grabstätten gelegt worden wären: durchsichtige Würfel aus Kristall, Hirschhornteile, Bernsteinperlen, Schachteln, Skulpturen, hölzerne Kugeln, Illustrierte, in denen sich Fotografien von Frauen befanden, mit denen sie sich verglich.
    Wer putzt dieses große Haus, wer schrubbt die Böden? Diese Frau - sie tut alles, sie tut nichts. Sie trägt ihren sandfarbenen Pullover, schlank wie eine Gerte, die langen Haare zusammengebunden, das Feuer prasselt im Kamin. Ihr wahres Interesse gilt dem Kern des Lebens: Mahlzeiten, Bettücher, Kleidung. Alles andere hat keine Bedeutung; es wird irgendwie erledigt. Sie hat einen breiten Mund, den Mund einer Schauspielerin, aufregend, strahlend. Dunkle Flecken in ihren Achselhöhlen, Minzduft in ihrem Atem. Sie ist von Natur aus extravagant. Sie macht spontane Einkäufe, geht zu Bendel's, als würde sie Freunde besuchen, rafft fünf oder sechs Kleider zusammen und betritt eine Kabine, ohne sich die Mühe zu machen, den Vorhang ganz zuzuziehen; während sie sich auszieht, erhascht man einen flüchtigen Blick, schlanke Arme, schlanker Leib, ein kleiner Slip. Ja, sie schrubbt Böden, sammelt schmutzige Wäsche auf. Sie ist achtundzwanzig. Ihre Träume hängen noch an ihr, schmücken sie; sie ist selbstsicher, ruhig, man denkt bei ihr an langhälsige Tiere, an Wiederkäuer, vergessene Heilige. Sie ist vorsichtig, es ist schwer, sich ihr zu nähern. Ihr Leben liegt im verborgenen. Man bekommt sie nur durch den Rauch und die Unterhaltung
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