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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre
Autoren: James Salter
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Aale schlafen. Die Fahrrinne ist tief genug für Hochseeschiffe; wenn sie wollten, könnten sie die Städte im Landesinnern in Erstaunen versetzen. In den Marschen gibt es Schildkröten und Krebse, Reiher, Bonapartemöwen. Von den oberen Städten fließen Abwässer in den Fluß. Der Fluß ist dreckig, aber er reinigt sich selbst. Die Fische sind betäubt; sie treiben mit den Gezeiten.
    Am Ufer stehen Steinbauten, die nicht mehr in Mode sind, und zugige, schmucklose Holzhäuser. Es gibt noch Anwesen von früher, Überreste des großen Grundbesitzes vergangener Tage. Nah am Wasser steht ein großer viktorianischer Bau, die Ziegel weiß gestrichen, mit hoch darüber ragenden Bäumen und einem von einer alten Mauer umgebenen Garten, darin ein zerfallenes Gewächshaus mit schmiedeeisernen Verzierungen rings um das Dach. Ein Haus am Fluß, für die Nachmittagssonne zu tief gelegen. Statt dessen durchflutete es die Morgensonne, das von Osten her kommende Licht. Mittags erstrahlte es in voller Pracht. Es gibt Stellen, an denen die Farbe dunkel geworden ist, kahle Stellen. Die Kieswege lösen sich auf; Vögel nisten in den Schuppen. Wir schlenderten im Garten, aßen die kleinen bitteren Äpfel. Die Bäume waren trocken und knorrig. In der Küche brannte das Licht.
    Ein Auto kommt die Einfahrt herauf, zurück aus der Stadt. Der Fahrer geht ins Haus, nur für einen Moment, bis er gehört hat, was passiert ist: das Pony ist ausgebrochen.
    Er ist wütend. »Wo ist sie? Wer hat die Tür offengelassen?«
    »Mein Gott, Viri. Ich weiß nicht.«
    In einem Raum mit vielen Pflanzen, einer Art Solarium, leben eine Eidechse, eine braune Schlange, eine schlafende Schildkröte. Die Eingangsstufe ist hoch, die Schildkröte kann nicht heraus. Sie schläft mit eingezogenen Beinen auf dem Kies. Ihre Nägel sind elfenbeinfarben, sie rollen sich nach innen, sie sind lang. Die Schlange schläft, die Eidechse schläft.
    Viri hat den Mantelkragen hochgeschlagen und stapft den Hügel hinauf.
    »Ursula!« ruft er. Er pfeift.
    Das Tageslicht ist erloschen. Das Gras ist trocken; es knarzt unter den Sohlen. Den ganzen Tag hat die Sonne nicht geschienen. Den Namen des Ponys rufend, dringt er bis in die hintersten Ecken vor, bis zur Straße, zu den anliegenden Feldern. Überall Stille. Es beginnt zu regnen. Er sieht den einäugigen Hund, der einem Nachbarn gehört, eine Art Husky mit grauer Schnauze. Das Auge ist vollkommen geschlossen, versiegelt, mit Fell bedeckt, als wäre es nie dagewesen, so lange hat er es schon verloren.
    »Ursula!« ruft er.
    »Sie ist hier«, sagt seine Frau, als er zurückkommt.
    Das Pony steht an der Küchentür, ruhig, dunkel, und frißt einen Apfel. Er berührt seine Lippen. Es beißt ihn beiläufig sanft ins Handgelenk. Seine Augen sind schwarz, glänzend, mit den langen, verrückten Wimpern einer betrunkenen Frau. Das Fell ist dicht, der Atem sehr süß.
    »Ursula«, sagt er. Ihre Ohren stellen sich kurz auf, vergessen dann.
    »Wo warst du? Wer hat deinen Stall aufgemacht?«
    Sie interessiert sich nicht für ihn.
    »Hast du gelernt, wie man das macht?« Er berührt eines ihrer Ohren, es ist warm, fest wie ein Schuh. Er führt sie zum Stall, dessen Tür weit offensteht. Draußen vor der Küche tritt er sich den Schmutz von den Schuhen.
    Überall brennt Licht: ein riesiges, erleuchtetes Haus. Tote Fliegen, groß wie Bohnen, liegen hinter den Samtvorhängen, an manchen Ecken wölbt sich die Tapete, das Fensterglas verzerrt. Sie leben in einer Art Vogelhaus, einer Bienenwabe. Das Dach ist aus dickem Schiefer, die Zimmer sind wie Läden. Dieses Haus läßt keinen Ton nach außen dringen; im Dunkeln ist es wie ein Schiff. Drinnen kann man, wenn man genau hinhört, alles wahrnehmen: Wasser, leise Stimmen, das langsame, gleichmäßige Nachgeben des Holzes.
    Im Hauptbadezimmer mit seinen Flecken, Schwämmen, teefarbenen Seifen, Büchern und wassergewellten Ausgaben der Vogue weicht er in Ruhe vor sich hin. Das Wasser reicht ihm über die Knie; es dringt bis in die Knochen. Auf dem mit Teppich ausgelegten Boden steht ein Korb voll glatter Steine, ein leeres Glas von tiefstem Blau.
    »Papa«, rufen sie durch die Tür.
    »Ja.« Er liest die Times.
    »Wo war Ursula?«
    »Ursula?«
    »Wo war sie?«
    »Ich weiß nicht«, sagt er. »Sie ist spazieren gewesen.«
    Sie warten auf mehr. Er ist ein Geschichtenerzähler, ein Mann der Wunder. Sie horchen auf Geräusche, erwarten, daß die Tür gleich aufgeht.
    »Aber wo war sie?«
    »Ihre Beine
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