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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre
Autoren: James Salter
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einfachen Häuser. Eine Stunde, und sie fuhren in die dicht zusammen-gedrängten Gebäude, noch war heißer Nachmittag, Apartments, Geschäfte, dann zügig weiter über abfallbesäte Straßen ins Zentrum des Lebens, ins Getümmel.

11
    Es war Frühling, als Viri zurückkehrte. Er fuhr an einem warmen Tag von New York herauf. Er war allein gekommen. Die stille lautlose Luft, das Licht, erfüllte ihn mit einer Art Grauen, der Angst, Dinge wiederzusehen, die zu machtvoll für ihn waren. Er hielt an einer Stelle auf der Steilküste oberhalb des Flusses, stellte sich an den Hang und sah hinaus. Die Höhe machte ihn seltsam schwindlig. Er blickte hinunter. Hundert Meter weiter unten, am Fuß der senkrechten Felswand, lag Gletscherschutt. Der große, verschmutzte Fluß glänzte in der Sonne. Auf der anderen Seite des Ufers die endlosen Häuser; er konnte die stillen Zimmer darin fast riechen, konnte die Wärme der Bettwäsche, der Teppiche, des Herdes spüren. Die Radios spielten leise, die Hunde lagen in Quadraten aus Sonnenschein. Er hatte sich von alldem hier gelöst, er blickte mit einer Art Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Haß, daraufhinunter. Wieso konnte ihn etwas so treffen, von dem er sich längst abgewandt hatte? Warum sollte er ihm überhaupt auch nur Verachtung zeigen? Er sah noch einmal hinunter, die Gedanken schwer und langsam. Die Vorstellung des Fallens war ihm schrecklich, aber in diesem Moment schien es ihm, als wäre alles, was hinter ihm lag, sein ganzes Leben, nicht viel mehr als die Zeit, die es dauern würde, durch die Luft nach unten zu stürzen. Als er weiterfuhr, standen nur noch zwei andere Autos dort, beide leer. Er konnte nicht sehen, wo ihre Insassen hingegangen waren. Er hatte Angst, jemanden zu treffen, selbst davor, von einem Fremden angelächelt zu wer-den. Die Mülltonnen waren leer, der Imbißstand geschlossen.
    Alles Unveränderte erschien ihm schrecklich, eine Tankstelle mit ihren Holzbauten, das Land an sich. Er wurde stumpf und teilnahmslos. Er versuchte, an nichts zu denken, die Dinge nicht wahrzunehmen. Das alles war eine Bekräftigung, daß nichts stehengeblieben war, daß ein Leben lohnend sein konnte. Sein eigenes hatte sich im Umherstreifen, in der Verzweiflung verloren.
    Er ging durch den Wald hinter seinem Haus, der schon grün wurde. Er konnte es kurz zwischen den Bäumen hindurch sehen, still, fremd. Die Blätter um ihn herum waren blaß und voller Sonne. Heruntergefallene Ranken zogen an seinen Füßen.
    Er trug einen grauen Anzug, den er in Rom gekauft hatte. Er ging langsam. Die Sohlen seiner Schuhe wurden von der Feuchtigkeit dunkel. Die Bäume waren groß und ohne untere Zweige. Sie waren vertrocknet und abgebrochen, während die Baumkrone das Licht suchte. Feucht, vergraben, knackten sie unter den Füßen. Er sah die verblaßte Markierung eines Landvermessungsstabes; weiter unten ein vergessenes Kinderfort. Daneben ein Hammer, verrostet, der Griff von Würmern zerfressen. Jeder Schritt prasselte von brechenden Zweigen und Ästen, dem Abfall von Jahren. Er probierte den Hammer, der Griff brach ab. Vögel riefen in der Stille. Winzige Fliegen schwebten in der Luft. Darüber, im fernen Sonnenlicht, das Dröhnen von Linienflugzeugen auf dem Weg nach Europa.
    Das Fort war gefallen, die Kinder waren fort. Sie hatten sich in diesem Wald versteckt, hatten zwischen den kleinen wilden Blumen gelegen. Hadji hatte sich im Schnee gewälzt, darin gebadet, sich auf dem Rücken hin-und hergedreht, dann einen Moment innegehalten, dieses duftende wilde Tier, die Augen dunkel wie Kaffee, mit lächelndem Mund.
    Diese Nachmittage, die niemals verschwinden würden, sie waren vorbei. Er lebte woanders. Seine Töchter waren fort. Ein alter Mann in den Wäldern, seine Gedanken schössen so schnell in die Zukunft, wie sie zurückgegangen waren. Er ging mit langsamen, behutsamen Schritten, den Blick auf den Boden gerichtet. Da sah er etwas, gewölbt und wundersam. Er blieb ungläubig stehen. Wie sie den Autos, dem scharfen Blick von Kindern, von Hunden entkommen war, konnte er nicht verstehen, aber irgendwie war das geschehen. Es war die Schildkröte. Sie hatte ihn nicht gesehen, er sah zu, wie sie dahinkroch, wie die Blätter raschelten, während sie sich weiterschob. Er bückte sich und nahm sie auf. Das Gesicht des Reptils, gleichmütig, weise, zeigte nichts: die blassen Augen, klar wie Perlen, schienen ihn nicht ansehen zu wollen. Die kräftigen Beine stießen kreisend gegen seine Finger,
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