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Licht der Nacht

Licht der Nacht

Titel: Licht der Nacht
Autoren: Uwe Post
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ein
furchtbarer Scherz, eine Lüge. Lügen hatten Wahrheiten in den
letzten Jahren auf der Beliebtheitsskala weit hinter sich gelassen,
und da die Menschen immer das begehrten, was sie nicht hatten,
wünschten sie sich inzwischen nichts mehr als Wahrheit,
Ehrlichkeit, Offenheit – Prinzipien, die nicht nur in Schwarz'
Liedtexten eine Rolle spielten, sondern wichtige Prinzipien der
Schattengemeinde waren. Und der Dämonen, soweit man das beurteilen
konnte. »Vielleicht«, wiederholte Schwarz, »wird alles gut.«
    Sie trugen Koffer und Taschen die enge Treppe zum Dach hinauf,
wo Sundown auf einem Holztisch verschiedene Geräte aufgebaut hatte.
Um ihn herum standen andere Schattenwesen, ebenfalls mit Gepäck; im
Hintergrund trieben sich Dämonen herum – blutrote Rieseneulen, ein
grauer Flugsaurier mit Hufen, eine Schabe, dem ihr Mensch einen
VfL-Bochum-Schal umgebunden hatte.
    Als Wanda und Schwarz näher kamen, bildete sich eine Gasse.
Sundown drehte sich um. Sein Mund bildete lautlos Worte, dann
schüttelte er den Kopf, zeigte auf den Bildschirm eines Notebooks.
»Es hat schon angefangen«, sagte er. »Asien, Indien … sie
schrieben von einem Licht, es gibt sogar ein überbelichtetes
Foto … «
    Irgendjemand schluchzte, andere Stimmen riefen die Namen ihrer
geisterhaften Gefährten. Es klang wie verzweifelte letzte
Worte.
    »Also ist es wahr«, sagte Wanda.
    »Das war zu befürchten«, entgegnete Sundown. »Der östliche
Himmel ist übrigens deutlich zu hell.« Er wedelte mit der Hand,
zeigte auf die Digitalanzeige eines Messintruments. »Seit einigen
Minuten haben wir keine Verbindung mehr nach Asien oder Indien.
Gucki würde … ach, Mist.« Der Junge fummelte an seinem
Instrument herum.
    »Du solltest vielleicht etwas sagen«, sagte Wanda zu Schwarz.
Der schloss kurz die Augen, dann kletterte er auf Sundowns
Stuhl.
    »Ich mach's kurz«, verkündete er und zeigte nach Osten. »Das
da«, rief er, »ist das Zentrum der Milchstraße. Es war ein
harmloses, wenngleich ziemlich riesiges Schwarzes Loch, bis
irgendwelche Irren einen Schalter angeknipst haben. Jetzt leuchtet
es. Und zwar mit tödlicher Helligkeit.« Schwarz hob seinen Blick,
sah zu den immer zahlreicher werdenden Dämonen hinüber, die am Rand
des Dachs warteten. »Unsere Gefährten werden uns in Sicherheit
bringen.«
    Wind kam auf, warmer Sommerwind, der in dieser Nacht zu einem
brennenden Orkan wachsen würde. Schwarz sah nach Osten, wo der
Himmel orange glühte. Viel zu hell. »Es wird Zeit«, sagte Schwarz.
»Gehen wir.«
    »Ich will es sehen!«, rief plötzlich jemand. »Ja, das Licht der
Nacht!« eine andere Stimme.
    Schwarz schüttelte den Kopf. »Ich weiß, es ist eine seltsame
Ironie. Aber das dürfen wir nicht. Es … ist einfach zu hell.«
Schwarz stieg vom Stuhl und trat zu Wanda und Sundown. »Es ist
Zeit«, sagte er.
    »Trägt mein Gefährte wohl meinen Koffer?«, fragte jemand.
    »Frag ihn einfach«, kam die Antwort.
    Die Leute auf dem Dach riefen die Namen ihrer Gefährten. Ein
Mädchen zeigte schüchtern auf eine bis zum Platzen gefüllte, mit
Strasssteinen verzierte Reisetasche. Ihr Dämon, der wie ein
Gummibär aus Lakritz aussah, hob die Tasche hoch, dann nahm er das
Mädchen bei der Hand. Beide blinzelten, als das Licht über den
Horizont stieg. Schwarz sah direkt hinein, schloss die Augen. Als
er sie öffnete, waren das Mädchen und ihr Lakritzbär spurlos
verschwunden. Ebenso viele andere.
    »Daniel«, sagte Wanda und nahm Schwarz bei der Hand. »wir
sollten … «
    Hell wie am Mittag, Schatten so lang wie im tiefsten Winter, das
blieb Schwarz vom Licht der Nacht im Gedächtnis. Und minutenlang
ein länglicher Geisterfleck, sichtbarer Schmerzensschrei der
überreizten Netzhaut.
    Das Licht der Nacht schien auf die Welt.
    Und die Schattenwesen flohen in die ewige Dämmerung.
     
     
    Schwarz saß auf einem Mauerrest und las E-Mails. Zunächst hatte
er es für reichlich unverfroren gehalten, dass Sundown digitales
Equipment in die Dämmerung mitgebracht hatte, um als erste
Amtshandlung ein Funknetzwerk zu errichten, dessen zentralen Server
er Gucki genannt hatte. Inzwischen wusste Schwarz zu schätzen, dass
Gucki nicht nur Postfächer, sondern auch das Forum und eine Kopie
eines Online-Lexikons bereithielt. Wie Sundown die Dämonen dazu
gebracht hatte, ihm den nötigen Stromanschluss bereitzustellen,
hatte er nicht weiter hinterfragt. Das System funktionierte, und
man konnte sich fast zuhause fühlen.
    Fast.
    Am meisten fehlten
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