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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise
Autoren: Anna Enquist
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vierunddreißigjährigen Körper wollte nach unten, auf den Boden, und dort liegenbleiben. Lieber noch draußen, im Gras unter der Linde. Die Müdigkeit war nicht zu erklären, denn sie hatte in dieser Woche gut geschlafen, sie aß genug und hatte keine besonderen Anstrengungen hinter sich. Dennoch fühlte sich ihr Rücken an, als hätte sie ein Joch mit schweren Milcheimern zu tragen.
    Zwischen den Briefen und Zeitungen pflückte sie die Dinge heraus, die auf keinen Fall dorthin gehörten: eine Haube mit Bändern, ein Taschentuch, eine vertrocknete Orange. Die Kerne klapperten gegen die lederartige Schale, als sie die Frucht auf den Boden warf. Bücken. In den Korb. In einer Bewegung aus der gebückten Haltung hochkommen und gleich in die Papiere greifen. Gut so.
    Ein Brief von Stephens über Geld: Gemäß dem Wunsch Eures Gemahls hat die Admiralität beschlossen, Euch für die Dauer der Reise eine Summe von zweihundert Pfund jährlich auszubezahlen. Aufbewahren. James würde ihn lesen wollen. Es war sein Geld, verdient damit, daß er in der Welt herumsegelte. Völlig unbegründet, deswegen dieses ärgerliche Gefühl zu entwickeln, man sei zu Dank verpflichtet. Das war keine Mildtätigkeit, das war kein Trinkgeld. Der Betrag, und mehr als das, stand ihr rechtmäßig zu. In Gedanken sah sie die Herren von der Admiralität auf einer Sitzung versammelt, aufgeregt über James' Unternehmung, voller Stolz, Vaterlandsliebe und Dünkel. »Ach, seine Frau muß ja auch leben. Hübsches Sümmchen, sorgst du dafür, daß sie es bekommt?«
    Sie zuckte die Achseln. Der nächste Brief, in der Handschrift Hugh Pallisers, betraf die Jungen. Ich vernahm, liebe Elizabeth, daß Euer Altester, der wackere James junior, nach dem Sommer seinen Antritt an der Seefahrtsschule zu Portsmouth nehmen wird. Er wird es gewiß kaum erwarten können, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. In dessen Kielwasser, sollte ich vielleicht sagen! Es ist freilich schön für Dich, daß Du den kleinen Nathaniel noch ein Jahr zu Hause behalten kannst, sonst wärst Du wohl doch sehr einsam. Wir hoffen natürlich, daß James dieses Jahr wohlbehalten zurückkehrt, aber die Unwägbarkeiten bei derlei Expeditionen sind Dir bekannt. Du weißt auch, daß ich für Dich da bin, wann immer Du mich brauchen solltest.
    Palliser, der Schatzmeister der Marine, der James unterstützt und empfohlen und das Augenmerk der Herren mit Gewalt auf ihn gelenkt hatte. Sie lächelte und legte den Brief zu ihren eigenen Papieren. Sie würde ihn auf eine Tasse Tee im Garten einladen, damit er mit Jamie und Nat sprechen konnte.
    Sie suchte Rechnungen zusammen und warf Zeitungsausschnitte weg. Das Fundament des Stapels, den sie abtrug, kam zutage: drei dicke, dunkle Bücher über Entdeckungsreisen in der Südsee. Der Name des Autors war mit goldenen Lettern in das Leder geprägt: John Hawkesworth. Sie hob die Bände hoch und klopfte vorsichtig den Staub herunter.
    James würde wütend sein. Hawkesworth hatte sich seine Journale angeeignet und die Reise beschrieben, als hätte er selbst sie gemacht. Sie hatte den Text mit den urschriftlichen Logbüchern verglichen und sich über die Übertreibungen und Fehler, über den Verfasser, aber auch über ihren Mann geärgert. Was für eine Dummheit, seine Geschichte so naiv aus der Hand zu geben. Schön und gut, James haßte die Welt der eingebildeten Kunst- und Literaturliebhaber mit bäurischer Bitterkeit, aber er schnitt sich ins eigene Fleisch, wenn er seine Schriften ablieferte und es ablehnte, sich um deren Redaktion zu kümmern. Er sagte, er schäme sich – seine Orthographie sei fehlerhaft, und er könne keine guten Sätze bilden. Das stimmte, doch was er zu sagen hatte, war allemal der Mühe wert. Jemand mußte ihm helfen. Ich, dachte sie, ich.
    Neben den Hawkesworth-Folianten lag eine Zeichnung von einem Boot, eine sorgfältig ausgearbeitete Kinderzeichnung. Jamie. Die Seitenwand des Schiffes hatte er durchbrochen dargestellt, so daß die Vorratskammern mit Tonnen und Ballen, der Schiffsraum und die verschiedenen Kajüten zu sehen waren. In die Kapitänskajüte hatte er einen Mann gezeichnet, der mit dem Rücken zum Betrachter schreibend an einem Tischchen saß. Auf dem Achterdeck standen eine Kuh und eine Ziege.
    Warum sollte sie James nicht beim nächsten Buch helfen können? Nachher saß er hier am Tisch und seufzte und fluchte, verdarb seinen Text mit übertriebenen Dankesbezeigungen und falschen Ergebenheitsadressen,
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