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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise
Autoren: Anna Enquist
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neue Kontinente kartieren. Erstaunlich gut hatte er sich in die Rolle des Kommandeurs hineingefunden. Nicht die leiseste Untertänigkeit oder Unsicherheit war zu erkennen gewesen, als er seine Ansprüche an das Schiff, die Ausrüstung und die Instrumente zum Ausdruck brachte. Er forderte das Beste und Teuerste und bekam es auch. Doch zum Kapitän wollten sie ihn nicht befördern, der Titel war dem Hochadel vorbehalten. Er blieb Leutnant. Es schien James nicht zu stören, solange er nach eigenem Ermessen handeln konnte. Wissen anhäufen, schauen, beschreiben, sehen, wie die Welt wirklich ist – das wollte er.
    Die Reise sollte drei Jahre dauern. Als das Schiff – eine plumpe, flache Kohlenschaluppe – auslief, hatte Elizabeth drei kleine Kinder und ging mit dem vierten schwanger. Sie war erleichtert gewesen, als James' Nichte zweiten Grades, Frances, ins Haus kam, um ihr Gesellschaft zu leisten. Siebzehn war sie, ein halbes Kind noch, ein Mädchen mit einer Fülle roter Locken und scheuen Augen. Sie erweckte den Eindruck, als werde sie mit ihren staksigen Gliedmaßen überall anstoßen, das Geschirr aus den Händen fallen lassen und mit gefülltem Tablett gegen die Tür laufen, doch nichts dergleichen. Sie war gewandt, sah, wo es etwas zu tun gab, und hatte Spaß daran, behilflich zu sein. Sie ging mit den Jungen, damals drei und vier Jahre alt, in den Garten, während Elizabeth die kleine Elly badete. Frances' Bett stand im Jungenzimmer, und die Kinder waren schon bald ganz vernarrt in sie.
    Für Elizabeth war es, als habe sie endlich eine Schwester bekommen. Frauen im Haus, ein Töchterchen, eine Schwester. Sie kannte das nicht, immer waren da Männer gewesen: der Stiefvater, der Onkel, die Vettern. Der Ehemann. Die Söhne. Der Vater, den sie nie gekannt hatte, der starb, als sie erst zwei war, und von dem ihr absolut nichts mehr in Erinnerung geblieben war. Was sagte er zu mir, hob er mich hoch, wenn er nach Hause kam, tanzte er mit mir durchs Zimmer? Ihre Mutter antwortete nicht. Was früher gewesen war, tat jetzt nichts zur Sache, jetzt saß ein schwarzhaariger, gedrungener Mann in der Küche, der Pfannkuchen wollte. Er lehrte Elizabeth rechnen und die Bücher führen. Neue Kinder kamen nicht. Sie blieb das einzige, die Tochter.
    Der Bruder ihrer Mutter hatte zwei Jungen, mit denen Elizabeth aufwuchs. Sie war die Älteste und dachte sich die Spiele aus, bis die Jungen in die Schule kamen und ihnen das mädchenhafte Getue zuwider wurde. Wenn sie eine Schwester gehabt hätte, dachte sie, hätte es wenigstens zwei gegen zwei geheißen. Sie hatte sich zurückgezogen. Sie konnte gut lesen, und der Stiefvater, den sie Vater nannte, besaß eine stattliche Anzahl Bücher, zu denen sie freien Zugang hatte. Sie konnte sticken und stricken. Sie wußte sich schon zu helfen.
    Zur Schenke ihres Stiefvaters hatte sie keinen Zutritt, aber sie verzeichnete seine Ausgaben und Einnahmen in länglichen, gebundenen Kassenbüchern. Ihre Handschrift war deutlich und gleichmäßig; sie war eine Zierde für ihre Eltern. Wenn eine Schwester dagewesen wäre, hätte sie dann unnütze, kindische, leichtsinnige Dinge gemacht? Arm in Arm am Fluß entlangspazieren, unter einem Sonnenschirm hervor zu jungen hinüberschielen und dann, wenn sie zurückblicken, rasch etwas Wichtiges besprechen, einander in den Arm zwicken und in prustendes Gelächter ausbrechen?
    Onkel Charles sah sie abends die Buchhaltung machen. »Das kannst du?« fragte er. »Donnerwetter! An dir ist ein Kerl verlorengegangen. Gebt mir so eine Tochter!«
    Sie richtete sich kurz auf und beugte sich wieder über das Kassenbuch, ohne etwas zu erwidern. Mit fester Hand notierte sie die Tageseinnahmen, tupfte die Tinte mit Löschpapier trocken und stellte die Lampe um, damit sie ihre Arbeit besser sehen konnte. Eine Schwester hätte jetzt den Kopf zum Fenster hereingestreckt und ihr zugerufen, sie solle noch kurz nach draußen kommen, raus aus dem Zimmer mit der niedrigen Decke, wo es nach Tabakrauch und schwelendem Holz roch, wo die alten Leute mit einem Stolz und einer Zufriedenheit von ihr sprachen, als wäre sie auch schon so alt.
    Onkel Charles hatte ihre Mutter gefragt, ob Elizabeth bei ihm arbeiten dürfe. Er hatte einen kleinen Betrieb für Schiffsbedarf nahe am Fluß. Seine Kundschaft nehme zu, es werde ihm zuviel, und seine Gehilfen seien längst nicht so helle wie seine gescheite Nichte. Sie war nur zu gern darauf eingegangen, sie fand es aufregend, daß ihr Onkel
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