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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise
Autoren: Anna Enquist
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mögliche über sie und ihr Leben zurechtreimten, ohne sich auch nur einen Moment für den wirklichen Stand der Dinge zu interessieren. Machte sich dieser verbitterte Mann überhaupt eine Vorstellung davon, wie sehr sein Sohn in dem famosen London gegen mächtige Adlige ankämpfen mußte, wie sehr er schleimen und sich erniedrigen mußte, um zu bekommen, was er wollte? Wußte diese neidische Frau überhaupt, wie das war, jahrelang allein für die Kinder und das Haus verantwortlich zu sein? Niederzukommen, während der Mann auf See war? Ein ums andere Mal Abschied zu nehmen, ohne zu wissen, ob man sich je wiedersehen würde? Wie es war, wenn man seinem Mann, der nach drei Jahren glücklich und aufgekratzt zurückkehrte, erzählen mußte, was unterdessen zu Hause geschehen war? Sie hatte der Familie ihres Mannes eine gute Nacht gewünscht und war nach oben gegangen, mit geradem Rücken.
    Zwei Tage später war James zurückgekehrt, die Wangen kalt und rot vom Reiten. Er war gut gelaunt und sprach begeistert von dem Wiedersehen mit John Walker, dem Mann, bei dem er in der Ausbildung gewesen war, der ihn gelehrt hatte, wie ein Schiff gebaut wurde und wie man damit umging, der Mann, der ihn bei sich aufgenommen hatte, als er sich für die Seefahrt entschieden hatte.
    »Du mußt ihn kennenlernen! Wir fahren morgen zu ihm. Er hat mit seinen Freunden dagestanden und mich erwartet, als ich über die Heide geritten kam. Mary', die alte Haushälterin, war auch dabei, sie fiel mir um den Hals, als ich absaß, ganz außer sich vor Freude!«
    »Ich komme nicht mit«, hatte sie gesagt. »Ich habe Angst vor Pferden.«
    Sie könnten sich doch eine Kutsche nehmen, es sei wichtig, daß seine Frau mit seinen Freunden auf gutem Fuß stehe, in London habe er keine Freunde wie diese, Freunde von früher, die ihn kannten, wie er war, die sich über seinen Erfolg freuten und sich nicht von Eigennutz oder Neid leiten ließen.
    Das war neu für sie. James brauchte sie nie zu etwas zu überreden, immer wenn er sie um etwas bat und es ihr erklärte, war sie sich mit ihm einig und willigte ein. So war es auch gewesen, als sie sich am ersten Sonntag nach ihrer Hochzeit anschickte, in die Kirche zu gehen. Er mache dabei nicht mit, hatte er gesagt und war auf Strümpfen an den Tisch geschlurft, auf dem seine neueste Karte ausgebreitet war. Seine Zeit zu Hause sei ihm zu kostbar, um sie an gesellschaftliche Konventionen und Rituale zu verschwenden, deren Nutzen er nicht einsehe. Er verstehe, daß sie in der Kirche hatten heiraten müssen, denn die Bücher mußten genau geführt werden. Doch damit habe es für ihn sein Bewenden. Glauben sei etwas, das er nicht begreife und nicht mit seiner Wahrheitsliebe in Einklang bringen könne.
    Sie hatte ihm aufmerksam zugehört, bei ihrem einsamen Gang in die kleine Kirche ernsthaft nachgedacht und versucht, der Predigt wie ein unvoreingenommener Beobachter zu lauschen. Genau hinschauen, sagte James immer, und dann erst zu erklären versuchen, was du gesehen hast. Sie sah einen Mann auf einem Podest gewaltig gegen etwa vierzig müde, fügsam in Bänken sitzende Menschen wettern, die sich auf Befehl hinknieten, wieder aufstanden und in Singen ausbrachen.
    Sie hören zu, weil sie auf jemanden hören wollen, hatte sie auf dem Nachhauseweg gedacht. Sie brauchen es, daß ihnen jemand erzählt, wie es zu sein hat. Und sie wollen beieinander sein, einander ansehen, etwas zusammen machen. Seither war sie im Winter nicht mehr in die Kirche gegangen. Wenn James auf See war, ging sie hin und wieder. Um etwas mit anderen zu machen. Um beieinander zu sein.
    Er konnte sie nicht zu einem Besuch in Whitby überreden. Sie verstand seinen Wunsch durchaus, aber sie wollte nicht. Nachts, zusammen in dem muffig riechenden Bett, sagte sie einfach nein. War sie schon wieder schwanger und wollte sie deshalb nicht mehr reisen als nötig? Sie wollte nicht länger angegafft und begutachtet werden, das war's. Aber das sagte sie nicht.
    »Nicht jeder verträgt Yorkshire«, hatte James gesagt, als er begriff, daß es ihr ernst war. Vielleicht war sie in jener Nacht schwanger geworden, zwischen den klammen Laken in seinem Elternhaus.
    Es könnte sein; ihr Bauch war jedenfalls gerundet, als James mitten im Sommer seine zweite Weltreise antrat.
    Obwohl sie so ungern reiste, war sie mit den Jungen – sie waren damals noch klein, sieben und acht – nach Sheerness gefahren, um das Schiff auslaufen zu sehen. Ich muß mehr mit ihnen machen, hatte
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