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Letzte Nacht

Letzte Nacht

Titel: Letzte Nacht
Autoren: Stewart O'Nan
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gekennzeichneten Vorräten die Tagesgerichte auswählt. Dass es als Gemüse Blumenkohl gibt, bedeutet für denjenigen, der die Teller zusammenstellt, jede Menge Arbeit, um den Arrangements ein bisschen Farbe zu verleihen.
    «Weißes Essen für weiße Leute», sagt Ty.
    «Bring die roten Paprika mit», sagt Manny. «Es ist Weihnachten.»

    Die Kaffeemaschine gluckert, und Manny steigt auf einen Stuhl und füllt auf der einen Seite normalen und auf der anderen koffeinfreien Kaffee ein. Als er die Deckel wieder zuschraubt, spaziert Roz vorbei, das Handy am Ohr und an der Zigarette saugend, obwohl sie weiß, dass sie in der Küche nicht rauchen darf. Sie winkt ihm mit der Kippe zwischen den Fingern zu und verschwindet im Pausenraum.
    Obwohl sie erst in einer Stunde öffnen, ist es Manny nicht entgangen, dass nur jene Leute auftauchen, die er zum Olive Garden mitnimmt, als wären die anderen weggeblieben, um ihm eine Lektion zu erteilen. Bei all den Problemen, die es mit der Stellenbesetzung gab, konnte er jede Menge Überstunden anbieten – eine Weihnachtszulage –, aber vielleicht hat er ihren Stolz unterschätzt. Er weiß nicht genau, ob er selbst gekommen wäre (aber das ist gelogen: Er wäre sogar pünktlich gewesen).
    Wie um seine Theorie zu widerlegen, taucht ein paar Minuten später ausgerechnet Leron auf, schüttelt den Schnee von der Mütze und bringt seine Hochfrisur mit den Fingern wieder in Ordnung. Irgendwann zwischen Mittwoch und heute hat er sich etwas eingefangen, das nun als eine blutverkrustete Wunde unter seinem linken Auge prangt. Er schlendert an Manny vorbei, der inzwischen an einem Küchenbrett Salat schneidet und ihn mit einem leisen «Okay» begrüßt; der Grasgestank, der in seiner Armeejacke sitzt, ist nicht zu verbergen. Er schiebt die Stechkarte ein und bleibt lange hinten im Flur, bevor er mit Schürze und schwarzem Piratentuch zurückkommt und nach der Schachtel mit den Latexhandschuhen greift.

    «Hände», sagt Manny und deutet mit einem Messer aufs Waschbecken, und Leron lächelt, ein Lächeln wie  «fast hätte es geklappt», oder vielleicht glaubt er auch, das ist nicht Mannys Ernst, sich jetzt noch um so was zu scheren. Bei Leron weiß man nie. Von Anfang an hat er so getan, als läge ihm nichts an dem Job, aber hier ist er, nachdem er gestern Abend nicht da war und sich auch nicht gemeldet hat. Wortlos übernimmt er das Salatschneiden für Manny. Er ist wesentlich schneller, doch nur seine Arme und Hände sind in Bewegung, alles Übrige ist stocksteif, der Mund zu einer schmalen Linie gepresst, die Augen müde und starr. Ty hat erzählt, er hätte auf dem U‐Boot so einen Typen gekannt, einen jungen Schwarzen, der hätte irgendwann auf Landurlaub seine Frau umgebracht, und man hätte sie erst gefunden, als das U‐Boot schon wieder auf offener See war. Ty hätte ihm seine Mahlzeiten in die Zelle gebracht. Monatelang hätte der Typ keinen Mucks getan, aber als Ty eines Abends das Essenstablett abholte, hätte er plötzlich gesagt: «Die Rüben waren gut.» Da Manny mit Anfang zwanzig eine Weile auf der schiefen Bahn war und sich verantwortungslos benahm (wie Jacquie darüber lachen würde), redet er sich ein, dass Leron zwar Probleme hat, aber im Grunde seines Herzens ein guter Mensch ist. Er hat schon erlebt, dass Leron Eddie hilft, wenn sich das saubere Geschirr am Ausgang der Geschirrspülmaschine stapelt, hat erlebt, wie er ein Heftpflaster auf Eddies Hand klebt, wenn der sich an einem kaputten Wasserglas geschnitten hat, alles mit demselben seelenruhigen Gesichtsausdruck. Er stellt sich vor, dass Leron zu Hause oder bei Freunden anders ist – dass er außerhalb des Lobster wieder zum Leben erwacht.

    Manny ist erstmal froh, dass er da ist. In vierzig Minuten öffnen sie, und er hat niemanden in der Küche und nur eine Serviererin. Er weiß Lerons annähernd pünktliches Erscheinen zu schätzen, während Warren, den er zum Olive Garden mitnimmt, schon mehr als eine Stunde verspätet ist.
    Vorn ist Eddie mit dem Staubwischen fertig und sitzt in einer Nische, wo er das Silberbesteck in Papierservietten wickelt und mit den Gebinden nach und nach mehrere weiße Eimer füllt, einen für jede Servicetheke.
    Roz sprüht ihre Nischen ab, ganz Ellbogen und knochige Arme, und beim Abwischen der Tischplatten schaukelt ihr Clairol‐blonder Pferdeschwanz hin und her. Trotz ihrer mädchenhaften Haarspangen ist Roz so alt, dass sie seine Mutter sein könnte. Sie ist ein Profi, mit
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