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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre
Autoren: Sue Grafton
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entlangfuhr, während Babe mit einer Hand auf seinem Knie ununterbrochen auf ihn einredete.
    Ich hätte gehen sollen, sowie das Auto aus der Einfahrt verschwunden war, aber ich dachte an Henry, und mein Ehrgefühl verlangte es, daß ich wenigstens ein letztes Mal so tat, als würde ich nach etwas Bedeutsamem Ausschau halten. Ich möchte ja nicht kaltschnäuzig wirken, aber Johnny Lee bedeutete mir absolut nichts, und bei der Vorstellung, seine Sachen zu durchwühlen, packte mich das kalte Grausen. Die Wohnung war deprimierend, stickig und heiß. Sogar die Stille fühlte sich klebrig an.
    Ich verbrachte ein paar Minuten damit, von einem Zimmer ins andere zu wandern. Badezimmer und Küche enthielten nichts von Belang. Ich kehrte ins große Wohnzimmer zurück und erkundete es rundum. Ich schob den Vorhang vor der Öffnung des Wandschranks beiseite. Johnnys wenige Kleider hingen in einer mutlosen Reihe da. Seine Hemden waren vom häufigen Waschen weich geworden und am Kragen abgetragen, und an manchen fehlte ein Knopf. Ich durchsuchte sämtliche Taschen und äugte in die Schuhschachteln, die auf dem Schrankbrett aufgereiht waren. Wie zu erwarten, enthielten die Schuhschachteln alte Schuhe.
    Die Kommode war voller Unterwäsche, Socken, T-Shirts und ausgefranster Taschentücher; nichts Interessantes war zwischen den Stapeln verborgen. Ich setzte mich an seinen kleinen Schreibtisch und begann, systematisch eine Schublade nach der anderen aufzuziehen. Ihr Inhalt war harmlos. Bucky hatte offensichtlich den größten Teil der Papiere des alten Mannes entfernt: Rechnungen, Quittungen, eingelöste Schecks, Kontoauszüge und alte Einkommensteuererklärungen. Ich stand auf und sah in einige der geschlossenen Pappkartons, wobei ich die Deckel zurückklappte, damit ich den Inhalt durchwühlen konnte. Den größten Teil des wichtigen Finanzkrams fand ich in der zweiten Schachtel, die ich öffnete. Eine kurze Durchsuchung erbrachte nichts Erstaunliches. Ich fand keinerlei persönliche Unterlagen und auch keine praktischen gelben Umschläge voller Dokumente, die einen früheren Militärdienst belegt hätten. Aber warum sollte er Souvenirs aus Kriegszeiten auch über vierzig Jahre lang aufbewahren? Falls er es sich anders überlegte und er doch Zuschüsse beim Veteranenamt beantragen wollte, brauchte er ihnen nur die Daten zu nennen, die er vermutlich im Kopf hatte.
    Die dritte Schachtel, in die ich sah, enthielt unzählige Bücher über den Zweiten Weltkrieg, was auf anhaltendes Interesse an diesem Thema schließen ließ. Worin auch immer sein eigener Beitrag zum Krieg bestanden hatte, offenbar las er gern die Schilderungen anderer. Die Titel waren eintönig, abgesehen von den wenigen, die mit Ausrufezeichen versehen waren. Jagdbomber! Bomben los! Kampfflieger in die Luft! Kamikaze! Alles war »strategisch«. Strategisches Kommando. Strategischer Luftkampf über Europa. Strategisches Luftbombardement. Strategische Kampftaktiken. Ich zog den Schreibtischstuhl näher an die Kiste heran und setzte mich. Dann zog ich ein Buch nach dem anderen heraus, hielt es am Rücken fest und blätterte die Seiten durch. Ich mache ständig so blödsinniges Zeug. Was hatte ich denn vermutet — daß mir seine Entlassungsurkunde in den Schoß fiele? Es ist eben so, daß die meisten Schnüffler aufs Schnüffeln trainiert sind. Das können wir am besten, auch wenn wir von dem betreffenden Auftrag nicht gerade begeistert sind. Wenn man uns einen Raum zur Verfügung stellt und uns zehn Minuten allein läßt, können wir gar nicht anders, als herumzuschnüffeln und automatisch in anderer Leute Angelegenheiten herumzuwühlen. Sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, macht nicht halb so viel Spaß. Meine Vorstellung vom Himmel ist, versehentlich über Nacht im Polizeiarchiv eingeschlossen zu werden.
    Ich überflog mehrere Seiten der Erinnerungen eines Luftwaffenpiloten und las von Luftkämpfen, Rettungsaktionen, Flammen, die aus Heckkanonen schossen, Mustangs, P-40ern, Nakajima-Jagdflugzeugen und V-Formationen. Dieses Kriegszeug steckte voller Dramatik, und ich begriff, weshalb Männer danach süchtig wurden. Ich bin selbst ein kleiner Adrenalin-Junkie und habe meine »Sucht« im Laufe zweier Jahre bei der Polizei entwickelt.
    Ich hob den Kopf und hörte auf der Außentreppe das Klappern von Schritten. Ich sah auf die Uhr: Es war erst fünf nach halb elf. Gewiß war es nicht Bucky. Ich stand auf, ging zur Tür und spähte hinaus. Ein Mann Mitte sechzig
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