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Lesley Pearse

Lesley Pearse

Titel: Lesley Pearse
Autoren: Wo das Gluck zu Hause ist
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entsetzlichen East Side-Mietshäuser von skrupellosen Spekulanten gebaut worden waren, deren einziges Ziel es war, möglichst viele Dollars aus einem Quadratmeter zu ziehen. Wenn Matilda bestimmen dürfte, würde sie diese Männer zwingen, selbst in den Wohnungen zu hausen. Sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, die Hoffnung der Neuankömmlinge zu zerstören, wenn sie in kleinen, dunklen Räumen leben, sich mit vier Familien ein Waschbecken teilen mussten und den Abort sogar mit dem gesamten Wohnblock.
    Dennoch war es heutzutage für die Immigranten ein Glück, überhaupt eines dieser Dreckslöcher zu finden. Viele von ihnen würden heute in einer armseligen, billigen Absteige übernachten müssen, die noch überfüllter und unhygienischer als das Schiff war. Wenn sie nicht wirklich schlau waren, würde man ihnen sicher auch Geld und Gut stehlen. Es gab ansteckende Krankheiten, mit denen sie würden kämpfen müssen, viele ihrer Kinder würden wahrscheinlich nicht länger als ein Jahr überleben, geschweige denn die Volljährigkeit erreichen. Amerika war nur etwas für die Tapferen. Man brauchte einen starken Körper, Beherztheit und Entschlossenheit, um hier seinen Weg zu finden.
    Matilda schüttelte die pessimistischen Gedanken ab. Für die Willensstarken war es wirklich ein Land, in dem Träume wahr werden konnten. Nur wenige Meilen von den geschäftigen Stadtzentren entfernt wartete ein unglaublich schönes Land auf sie. Sie hoffte, dass all die armen Zuwanderer, die jetzt in das Gebäude trotteten, auch die glitzernden Flüsse, die Berge, Wälder und endlosen Prärien des Landes sehen würden. Sie waren zu spät angekommen, um noch ein ungebändigtes, wildes Amerika entdecken zu können, wie es ihr damals vergönnt war – die riesigen Büffelherden waren verschwunden, die Indianer, die überlebt hatten, hatte man in Reservate abgedrängt. Züge trugen die Menschen nun eilig von Küste zu Küste, und die Wege, die die frühen Pioniere in ihren Planwagen gefahren waren, waren vollständig verschwunden. Aber es gab noch so viel Aufregendes zu entdecken, so viele Möglichkeiten für diejenigen, die nur nach ihnen greifen wollten.
    Als der Kahn etwa eine Stunde später zum Pier zurücktuckerte, wischte Matilda die letzte ihrer Tränen weg und richtete ihre Gedanken auf die Zukunft.
    So viel hatte sie in diesem Land erfahren – Freude und Leid, Armut und Reichtum, große Liebe und auch Leidenschaft. So viele von denen, die sie geliebt hatte, waren tot. Insgesamt gesehen überwogen jedoch die positiven Erlebnisse die schlechten Erfahrungen. Sie hatte so viele liebe, gute Freunde gehabt, Liebhaber, die ihr Herz beglückt hatten, und sie hatte Dinge gesehen und getan, die sich wenige Frauen ihrer Generation auch nur vorstellen konnten. Sogar die abgrundtiefe Bosheit, mit der sie konfrontiert worden war, die schrecklichen Qualen und Schmerzen, sah sie aus der zeitlichen Distanz in einem freundlicheren Licht.
    Für das, was vor ihr lag, war sie nun bereit. Morgen würde sie die Rückreise nach England buchen, eine Kabine der ersten Klasse, in der sie von einem Steward bedient werden würde, der denken musste, sie sei in solch einen Luxus hineingeboren. Und während der Überfahrt würde sie weiter an ihrer Rolle als feine Dame feilen.
    Der Gedanke, dass die Erzählungen über London Lil nun für immer im amerikanischen Geschichtenschatz bleiben würden, gefiel ihr. Lil würde hier bleiben müssen, sie musste sich von ihr verabschieden und sie vergessen.
    Oben in der Kabine saß Giuseppe am Steuerrad, und Fanny beobachtete still die alte Dame. Einige Male hatte sie in den vergangenen Stunden geweint, und Fannys Herz fühlte mit ihr. Sie wünschte, sie würde ihre ganze Lebensgeschichte kennen. Ob sie verwitwet war? Hatte sie Kinder und Enkelkinder? Oder war der Ire, von dem sie gesprochen hatte, ihre einzige große Liebe geblieben?
    Fanny beobachtete, wie die Dame in den Bug des Bootes kletterte. Sie stützte sich mit einer Hand auf der Reling ab, während die andere etwas unter ihrem Mantel zu suchen schien. Fanny machte ihren Vater nicht darauf aufmerksam, da sie dachte, Matilda würde vielleicht ihre Strümpfe zurechtziehen wollen. Doch plötzlich sah sie etwas Kleines, hellrot Leuchtendes in ihrer Hand. Die alte Dame führte es an die Lippen, küsste es und murmelte etwas vor sich hin. Dann warf sie es ins Wasser.
    Als Matilda sich wieder hingesetzt hatte, schlüpfte Fanny aus der Kabine und sah über die
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