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Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Titel: Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
Autoren: Michael Bengel
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Norden führt, hieß einmal A 275, jetzt hat sie keinen Namen mehr, seit es jenseits des Flusses die A 26 gibt. Von Piddinghoe bleibt uns der drollige Rundturm der Kirche, auch Southease hat solch einen runden Turm, den es in Sussex nur noch einmal gibt, in Lewes; an den grünen Kreidehängen sehen wir die Schafe, in den Ufermarschen nah am Fluss das Vieh. In Rodmell an der kleinen Tankstelle verlassen wir die stille Durchgangsstraße und rollen abwärts durch das enge Dorf, fast bis ans Ende bei der Kirche. Hier legen wir die Reiseführer weg, denn hier ist literarisches Terrain: Monk’s House, das Heim von Virginia Woolf. Hier lebte sie mit ihrem Mann von 1919 bis zu ihrem Tod im Fluss im Frühjahr 1941, übers Wochenende und auch unter der Woche, meist im Wechsel mit den Londoner Adressen. Bei seinem Tod im Jahre 1969 hatte Leonard fünfzig Jahre mit Monk’s House gelebt. Und in seiner Autobiografie gab er noch 1967 den alten Reiseführern Recht: »Der Blick über den River Ouse auf die Höhenrücken der Downs ist seit Chaucers Tagen unverändert geblieben.«
    Das stimmt nicht ganz, nicht weit entfernt, am Fuß der Hügel gegenüber, liegt eine staubige Zementfabrik und beißt sich aus dem Grün ein weißes Stück heraus: »Verdammte Scheißkerle«, schrieb Virginia Woolf bei Baubeginn 1932 in einem Brief, und nur die trügerische Aussicht auf die Pleite jener Firma ließ sie beide bleiben. Doch ansonsten ist die Gegend unverändert, die Kirche hinterm Haus bewahrt auch nach der Restaurierung die alten normannischen Formen, und im Innern von Monk’s House wachen die rührigen Damen des National Trust darüber, dass auch künftig alles bleibt, wie es war – ein Arbeitsplatz, ein Wohnhaus, aber kein Museum. Ein Teil des Hauses ist bewohnt, ein Opernsänger aus dem nahen Glyndebourne lebt in den kleinen Räumen oben und teilt sich Mittwoch nachmittags und sonnabends die Küche mit dem National Trust. Doch gerade so bleibt die Erinnerung an die wohl größte Dichterin in unserem Jahrhundert lebendig.
    Am Donnerstag, dem 3. Juli 1919, notierte sie in ihrem Tagebuch: »Monk’s House gehört uns auf immer.« – Und setzte in Klammern hinzu, wie unterdrückten Jubel: »Dies ist fast das erste Mal, dass ich diesen Namen schreibe, den ich hoffentlich viele Male schreiben werde, bevor ich ihn satt habe.« Mag sein, dass sie in ihrer Haut nie recht zu Hause war, am Ende war sie es nicht einmal in der Welt. Doch zu wohnen und »sich einzurichten« in mehr als bloß einer Bedeutung des Wortes, war ihr wie Ersatz dafür. »Ein eigenes Zimmer« heißt eines ihrer Bücher, ein Pamphlet gegen die untergeordnete Stellung der Frau. Ihre Tagebücher sind uns nun die besseren Begleiter zu ihren Stätten auf dem Lande als die besten Reiseführer.
    Monk’s House war das dritte Haus der Virginia Woolf in den Downs – und blieb ihr letztes. Nach wiederholten, lang andauernden Zusammenbrüchen und einem wochenlangen Klinikaufenthalt im Sommer 1910 hatte sie in Firle zum ersten Mal ein Haus für sich allein gemietet, weit genug entfernt von London. Nicht einmal ein Jahr später fand sie mit Leonard Woolf beim Wandern in den Downs ihr Traumhaus: Asheham. Als ihnen das gekündigt wurde, 1919, bemerkte sie in ihrem Tagebuch: »Oh je oh je!«, und setzte, voll Einsicht, hinzu: »L. meinte, es brauchte nicht viel, um aus einem Haus einen Fetisch zu machen; was stimmt; in der Zwischenzeit hängen wir in der Luft.«
    Seit 1916 wohnte ihre Schwester Nessa, Vanessa Bell, in der Nähe in Charleston Farnhouse nahe Firle, mit Liebhaber und Ehemann, im ständigen Kontakt mit alten Künstlerfreunden aus der Zeit in Bloomsbury. »Wir waren eine Familie, während sie ein Paar waren«, schrieb später Angelica Garnett, Vanessas Tochter, über die Woolfs. – »Sonne und Mond« hat Hilde Spiel – wie andere zuvor – die beiden schönen Schwestern genannt, die ungestüme, hemmungslose ältere und ihre bleiche Schwester, die wie ein Seismograf auf alle Schwankungen in der Familie mit Wahnsinnsschüben reagierte und die in der liebevollen Ehe ohne sexuelle Lustempfindung und -erfüllung ihrem Namen eine tiefere Bedeutung gab, als wäre er tatsächlich ein Programm: Virginia, die Jungfräuliche. In Charleston hatte sie Familienkontakte, wenn ihr einmal danach war.
    Nach allerlei Versuchen, abermals ein Haus zu mieten, kaufte sie in Lewes ungesehen einen alten Mühlenturm, und als die Woolfs ihn sich besehen wollten, entdeckten sie bei einem Auktionator
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