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Lesereise Rom

Lesereise Rom

Titel: Lesereise Rom
Autoren: Klaus Brill
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meistens bei Luigia, sagt Augusto. Neben Obst, belegten Brötchen und Kakao haben sie oft etwas Besonderes für sie dabei, neulich etwa die Geburtstagstorte, und an diesem Märzentag das Mimosensträußchen zum internationalen Frauentag.
    Ja, es ist da jemand, der sich kümmert und der zuhört, wenn Luigia hinterm Betonpfeiler singt und wenn Nello, der Philosoph, vor dem Feuerfässchen von Sokrates und Plato spricht. Wenn Rita aus Kalabrien, die schon mehr als zehn Jahre lang am Tiburtina-Bahnhof lebt, über Schmerzen klagt. Und wenn Adelmo sagt, er habe so ein Ziehen in der Brust und im Arm, ein Infarkt womöglich, und zwei Finger seien lahm. »Komm am Dienstag in die Via Dandolo, zum Arzt«, sagt Augusto.
    Via Dandolo, Haus Nummer 10 – diese Adresse ist allen Armen Roms und allen mittellosen Ausländern bekannt. Sie bekommen dort umsonst ein warmes Essen oder Kleidung, man hilft ihnen bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche, sie können sich Bücher ausleihen, und dienstags stehen kostenlos zwei Ärzte bereit. Der Andrang ist gewaltig, Augusto und Guglielmo stehen an der Eingangstür und geben Eintrittskarten aus, kostenlos natürlich. Fragt man sie nach den Motiven ihres Tuns, dann spricht der eine vom barmherzigen Samariter und der andere vom Geist der Freundschaft.
    Die beiden sind Aktivisten der Gemeinschaft von Sant’ Egidio, einer Gruppe von Katholiken, die sich der Fürsorge für die Armen verschrieben hat. Wie sie engagieren sich in Italien auch andere Menschen zu Hunderttausenden in gemeinnützigen Projekten, und zwar unentgeltlich. Abseits allen politischen Getöses und der Skandale um Mafia und Korruption ist im Land binnen zwei Jahrzehnten eine breite Bürgerbewegung gewachsen, eine Zivilisation der Solidarität entstanden. In aller Stille hat sich ein anderes Italien formiert, das im Ausland kaum einmal wahrgenommen wird.
    Volontariato nennt man das Phänomen. Dies bedeutet so viel wie freiwilliges Engagement und ist durchaus vergleichbar mit den (west-)deutschen Bürgerinitiativen der siebziger Jahre, freilich liegt in Italien der Schwerpunkt nicht auf Umweltfragen, sondern auf sozialen Problemen. Unentgeltlich arbeiten Zehntausende von Frauen und Männern etwa in Krankenhäusern, um die Missstände im Gesundheitswesen erträglicher zu machen. Andere sorgen für Alte und Behinderte oder säubern Strände vom Unrat, wieder andere widmen sich dem Denkmalschutz oder versuchen sich an der schweren Arbeit, Jugendliche von der Mafia fernzuhalten. Sie haben ein Netzwerk von etwa zehntausend Gruppen und Vereinen geknüpft, deren Dachverbände in Rom in großen Altbauwohnungen zwischen Pinnwänden, Flugblättern und Kopiergeräten hausen. Im Ganzen sind mehr als fünf Millionen Menschen, knapp ein Zehntel der Bevölkerung, dem volontariato zuzurechnen, etwa vierzig Prozent von ihnen sind religiös (und das heißt in Italien meist: katholisch) motiviert.
    So auch die Gemeinschaft von Sant’ Egidio, deren Identität mit der Zuordnung zum volontariato freilich noch nicht vollständig erfasst ist. Man muss nur einmal an irgendeinem Tag gegen 20.30 Uhr im römischen Stadtteil Trastevere zur schönen Piazza Sant’ Egidio laufen, und wird dann aus den Seitenstraßen Frauen und Männer, die meisten im Alter zwischen dreißig und fünfzig Jahren, herbeieilen und in die kleine Kirche von Sant’ Egidio strömen sehen. Jeden Abend treffen sie sich dort zu Gebet und Meditation, singen Psalmen und hören das Evangelium. Ein siebenarmiger Leuchter überstrahlt das Halbdunkel, Ikonen schweben, effektvoll ausgeleuchtet, im Raum. Nach einer halben Stunde schließen die Teilnehmer mit einem Lied und stehen danach schwatzend draußen auf dem Platz.
    Sie sind wie eine Familie. Es gibt, sagt Cesare, »eine feste, verbindliche Brüderlichkeit«. Sie gründet auf die Bibel und sie manifestiert sich in der Arbeit für die Mühseligen und Beladenen, nicht nur am Heiligabend, wenn die Armen zum großen Weihnachtsessen geladen und in der Kirche von Santa Maria in Trastevere die Tische zum festlichen Bankett aufgestellt werden. Augusto und Guglielmo, Francesca und Anna Maria und all die anderen schwärmen jeden Dienstagabend aus zu Luigia und Adelmo und den anderen Obdachlosen an den Bahnhöfen von Rom und an anderen Treffpunkten. Serenella und einige Freunde fahren regelmäßig an den Stadtrand zu den Zigeunern. Rinaldo und die anderen betreuen alte Menschen, Cesare trifft sich regelmäßig mit Einwanderern aus Südamerika, und wieder
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