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Leopard

Leopard

Titel: Leopard
Autoren: Jo Nesbø
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zwischen die Lippen und spürte die Filter gegen seine klappernden Zähne schlagen. Das Flugzeug ging in vier Stunden. Er hatte Saul gebeten, die Fahrt zum Flughafen zu übernehmen. Harry war so erschöpft, dass er seine Augen kaum offen halten konnte, trotzdem wollte und konnte er nicht schlafen. Die Geister hatten in dieser ersten Nacht Besuchsverbot.
    »Marlon Brando«, sagte sie.
    »Was?«, fragte Harry, zündete die Zigaretten an und reichte ihr eine.
    »Der Machoschauspieler, der mir nicht eingefallen ist. Er hat doch die femininste Stimme von allen. Und auch einen weiblichen Mund. Ist dir eigentlich aufgefallen, dass er lispelt? Man hört es nicht so deutlich, aber es ist da, wie eine Art Oberton, den das Ohr nicht als solchen wahrnimmt, das Hirn aber trotzdem registriert.«
    »Ich verstehe, was du meinst«, sagte Harry, inhalierte und sah sie an.
    Sie war über und über voll mit Blut, Knochensplittern, Fleischfasern und Gehirnmasse gewesen. Er hatte Ewigkeiten gebraucht, die Plastikhandfesseln zu durchtrennen. Seine Finger hatten ihm ganz einfach nicht gehorcht. Als sie endlich frei war, war sie aufgestanden, während er auf allen vieren am Boden hocken geblieben war.
    Er hatte sie nicht daran gehindert, als sie Tony an Jackenkragen und Gürtel gepackt und seinen Leichnam über die Kante des Kraters gerollt hatte. Harry hatte nichts gehört, nur das Flüstern des Windes, sah sie lange in den Krater blicken, bis sie sich zu ihm umgedreht hatte.
    Er nickte. Sie brauchte nichts zu erklären. Es musste so gemacht werden.
    Dann hatte sie fragend auf den Leichnam von Lene Galtung geblickt. Aber Harry hatte den Kopf geschüttelt. Die Entscheidung abgewogen. Das Praktische gegen das Moralische. Die diplomatischen Konsequenzen gegen die Möglichkeit einer Mutter, zu einem Grab zu gehen. Die Wahrheit gegen eine Lüge, mit der das Leben vielleicht leichter wäre. Dann war er aufgestanden, hatte Lene Galtung aufgehoben und war unter dem Gewicht der jungen Frau beinahe zu Boden gegangen. Er stellte sich an den Rand des Abgrunds, schloss die Augen, spürte die Sehnsucht und schwankte einen Augenblick. Dann ließ er sie los. Öffnete die Augen und sah ihr nach. Sie war nur noch ein Punkt, der gleich darauf von Rauch eingehüllt war.
    »Jeden Tag verschwinden Menschen im Kongo«, hatte Kaja gesagt, als Saul vom Vulkan fuhr und Harry sie, auf der Rückbank sitzend, im Arm hielt.
    Es würde ein kurzer Bericht werden. Keine Spur. Verschwun den. Sie konnten überall sein. Und die Antwort auf alle Fragen, die man ihnen stellte, würde immer die gleiche sein: Jeden Tag verschwinden Menschen im Kongo. Auch wenn sie fragte, die Frau mit den türkisen Augen. Für sie wäre es so am einfachsten. Keine Leiche, keine internen Ermittlungen, die es immer gab, wenn ein Polizist geschossen hatte. Keine peinlichen, internationalen Verwicklungen. Kein Abschließen des Falls – auf jeden Fall nicht offiziell –, sondern eine scheinbare Fortführung der Suche nach Leike. Lene Galtung würde weiterhin vermisst gemeldet sein. Es gab weder ein Flugticket auf ihren Namen noch eine Registrierung bei der Einwanderungsbehörde des Kongo. Es war am besten so, würde Hagen sagen. Für alle Beteiligten. Auf jeden Fall für die, die zählten.
    Und die Frau mit den türkisen Augen würde nicken. Akzeptieren, was er sagte. Vielleicht aber trotzdem Bescheid wissen, vorausgesetzt, sie lauschte auch auf das, was er nicht sagte. Sie hatte die Wahl. Konnte sich für das Zuhören entscheiden, wenn er ihr vom Tod ihrer Tochter erzählte. Dass er genau zwischen Lenes Augen gezielt hatte, statt das zu tun, was er für richtig gehalten hatte. Etwas weiter nach rechts. Dass er aber hatte sichergehen wollen, dass die Kugel nicht so weit abdriftete, dass seine Kollegin, die vor Ort mit ihm zusammengearbeitet hatte, verletzt werden konnte. Es lag an ihr, sich für diese Wahrheit zu entscheiden oder für die Lüge, die die Schallwellen vor sich herschoben und die ihr kein Grab, aber einen Rest Hoffnung gaben.
     
    Sie wechselten das Flugzeug in Kampala.
    Saßen auf den harten Plastikstühlen vor dem Gate und starrten auf die Flugzeuge, die landeten und abhoben, bis Kaja einschlief und ihr Kopf an Harrys Schulter sackte.
    Sie wachte davon auf, dass irgendetwas anders war. Sie wusste nicht, was, nur dass sich etwas verändert hatte. Die Raumtemperatur. Der Rhythmus von Harrys Herzschlägen. Oder die Linien in seinem blassen, übernächtigten Gesicht. Sie sah, dass seine
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