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Leopard

Leopard

Titel: Leopard
Autoren: Jo Nesbø
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füllten, und hörte das fast lautlose Weinen. Sie atmete schluchzend ein.
    »Was würdest du tun, Harry?«
    »Ich würde es nicht machen. Aber ich bin ja auch ein schlechter Mensch.«
    Ihr Lachen mischte sich mit ihrem Weinen. Und Harry fragte sich, wie sehr man einen Laut vermissen konnte, eine bestimmte Schwingung der Luft. Wie lange konnte man sich nach einem Lachen sehnen?
    »Ich muss jetzt los«, sagte er.
    »Warum?«
    »Ich habe noch drei Verabredungen.«
    »Noch? Vor was?«
    »Ich ruf dich morgen an.«
    Harry stand auf. Aus dem ersten Stock hatte er Musik gehört. Slayer . Slipknot .
    Als er sich ins Taxi setzte und die nächste Adresse nannte, dachte er an ihre Frage. Vor was? Bevor er fertig war. Frei. Vielleicht.
    Es war eine kurze Fahrt.
    »Dieses Mal könnte es etwas länger dauern«, sagte er.
    Er holte tief Luft, öffnete das Gartentor und ging auf die Tür des Märchenschlosses zu.
    Ihm war, als beobachteten ihn zwei türkisfarbene Augen durch das Küchenfenster.

KAPITEL 92
     
    Freier Fall
     
    M ikael Bellman stand im Eingangsbereich des Osloer Kreisgefängnisses und sah Sigurd Altman in Begleitung eines Wärters zur Pforte kommen.
    »Entlassung?«, fragte der Angestellte an der Schleuse.
    »Ja«, sagte Altman und reichte ihm ein Formular.
    »Etwas aus der Minibar genommen?«
    Der andere Wärter amüsierte sich über den Standardwitz, der vermutlich bei jeder Entlassung angebracht wurde.
    Die persönlichen Besitztümer wurden aus einem Schrank genommen und mit einem breiten Grinsen ausgehändigt.
    »Ich hoffe, der Aufenthalt hat Ihre Erwartungen übertroffen, Herr Altman, und natürlich auch, dass wir uns nicht so bald wiedersehen.«
    Bellman hielt Altman die Tür auf. Gemeinsam gingen sie über die Treppe nach unten.
    »Draußen wartet die Presse«, sagte Bellman, »wir gehen besser durch den Tunnel. Krohn wartet in einem Auto hinter dem Präsidium.«
    »Meister des Schachzuges«, sagte Altman mit einem säuerlichen Lächeln.
    Bellman fragte nicht, wen von ihnen beiden er meinte. Ihm brannten ganz andere Fragen auf der Zunge. Die letzten. Er hatte vierhundert Meter, um die Antworten zu bekommen. Der Türschließer summte, und er öffnete die Tür zum unterirdischen Gang: »Jetzt, da unser Handel abgeschlossen ist, können Sie mir vielleicht ja noch das eine oder andere erzählen.«
    »Schießen Sie los, Herr Kriminaloberkommissar.«
    »Zum Beispiel, warum Sie Harry nicht gleich korrigiert haben, als Ihnen klarwurde, dass er Sie festnehmen wollte?«
    Altman zuckte mit den Schultern: »Weil mich das Missverständnis amüsiert hat. Seine Schlussfolgerung war in sich komplett logisch. Ich habe nur nicht verstanden, warum ich in Ytre Enebakk festgenommen worden bin. Warum ausgerechnet dort? Wenn einem etwas unklar ist, hält man besser die Klappe. Also habe ich geschwiegen, bis mir langsam alles klarwurde und ich das ganze, große Bild gesehen habe.«
    »Und was hat Ihnen dieses Gesamtbild gesagt?«
    »Dass ich das Zünglein an der Waage war.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Na ja, der Konflikt zwischen Kriminalamt und Morddezernat war mir ja bekannt. Und ich erkannte gewisse Chancen darin. Als Zünglein an der Waage kann man beeinflussen, in welche Richtung die Waagschale sich senkt.«
    »Und warum haben Sie den Handel, den Sie mit mir gemacht haben, nicht mit Harry gemacht?«
    »In so einer Schlüsselposition sollte man sich immer für die Seite entscheiden, die im Begriff ist zu verlieren. Auf dieser Seite ist die Verzweiflung in der Regel größer, da ist man schneller bereit, den Preis zu zahlen, der verlangt wird. Das ist simple Spieltaktik.«
    »Warum waren Sie so sicher, dass nicht Harry verlieren würde?«
    »Ich war mir nicht sicher, aber es kam noch ein weiterer Faktor hinzu. Ich kannte Harry inzwischen ein bisschen. Er ist nicht wie Sie, Bellman, er ist kein Mann, der Kompromisse macht. Das persönliche Prestige ist ihm egal, er will einfach die wirklich bösen Jungs kriegen. Alle. Für ihn würde sich die Situation jetzt so darstellen, dass Tony Leike die Hauptrolle spielte, ich aber als Regisseur im Hintergrund die Fäden zog. Ginge es nach ihm, käme ich nicht so billig davon. Ich ging davon aus, dass ein Karrierist wie Sie das anders sieht. Und Johan Krohn teilte diese Meinung. Für Sie zählt der persönliche Nutzen, wenn Sie den Mörder fassen. Sie wissen nur zu gut, dass den Menschen da draußen nur wichtig ist, wer es getan hat, wer die Morde kon kret begangen hat, und nicht, wer sich
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