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Leonard Bernstein

Leonard Bernstein

Titel: Leonard Bernstein
Autoren: Jonathan Cott
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was angebracht war angesichts der winterlich-finnischen Musik, die wir hören sollten.
    Stark hustend zog er an der Zigarette, die ihm vom Mund hing, und durchstöberte dabei eine Sammlung alter LP s. Er zog eine unberührt aussehende Platte der 1. Sinfonie von Sibelius mit den New Yorker Philharmonikern (»Ein oft unterschätztes Orchester«, kommentierte er) heraus und legte sie auf den Plattenteller. Ein einsamer Klarinettist begann leise mit einer scheinbar endlos gewundenen und verlorenen Melodie. Dabei fragte mich Bernstein mit gespielter Großspurigkeit: »Wussten Sie eigentlich, dass mir der Präsident von Finnland 1965 den Löwenorden verliehen hat?«
    Immer wieder ließ er sein Wodkaglas von einer Hand zur anderen wandern und fing dann an zu singen – zu summen, zu raunen, hin und wieder gospelartig laut zu jubilieren – und die vier Sätze der Sinfonie (die Sibelius 1898 mit dreiunddreißig komponiert hatte) zu dirigieren und tanzend zu begleiten. Dabei versorgte er mich mit rezitativen Einschüben, Erklärungen sowie anerkennenden oder kritischen Kommentaren und Bemerkungen zu diesem leidenschaftlichen, lebhaften und höchst erfinderischen Werk.
    »Hören Sie zu, mein Junge!«, sagte er. »Hier ist das Thema des jüdischen Rabbi … da ist Beethoven … da ist Tschaikowsky – Schwanensee – und warten Sie nur, später kommt noch ein bisschen Borodin und Mussorgsky … ein bisschen Grieg (aber besser als Grieg) … und jetzt kommt Sibelius – hören Sie mal zu, das ist unverkennbar Sibelius. [Dabei sang er mir das rhythmische Basismotiv vor, das wir gerade gehört hatten, »Da-di dam-dam«, und notierte es für mich auf einen alten Briefumschlag.] Jetzt, Wind … seufzend … und jetzt ein Popsong [Er sang]: What did we do till we loved? … Ja, das ist absolut Carousel … Und jetzt kommt wieder eine Brise …« Und nachdem das großartige Andante verklungen war, verharrte er eine Weile reglos, mit erhobenem Glas, geneigtem Kopf und geschlossenen Augen.
    »Man hört wirklich viel von anderen darin«, sagte ich, den Bann brechend.
    »Aber es ist so wunderbar, wie alle Musik zusammenhängt!«, erwiderte Bernstein begeistert. Er ging zum Plattenspieler, um die LP umzudrehen. »Ich meine, ich könnte Ihnen Strawinskys Sacre vorspielen und Ihnen zeigen, was darin von Mussorgsky und Ravel kommt – ganze Passagen, Note für Note, von Ravel –, und das ist eindeutiger, verdammt haarsträubender Diebstahl! Ich könnte Ihnen Beethoven vorspielen, da, wo er am revolutionärsten ist, Takt für Takt, und Ihnen seine Herkunft von Händel und Haydn und Mozart beweisen.«
    »Was ist mit Carl Orff?«, fragte ich. »Wenn Sie Les Noces von Strawinsky aus den Carmina Burana herausnähmen, würde nicht viel übrig bleiben, oder?«
    »Orff bediente sich stilistisch zu neun Zehnteln aus Les Noces , das letzte Zehntel kam aus der israelischen Hora. [L. B. war inzwischen wieder aufgestanden, sang und tanzte eine Hora und hämmerte dabei auf den Tisch.] Und Orff war ein solcher Nazi! Natürlich haben die Israelis von den Rumänen geklaut. Na und? Orff ist Strawinsky plus jüdische Horas aus Rumänien. Weil ein Komponist die Summe seiner Hörerfahrungen ist. Plus Saft und Kraft von ihm selbst und einer Stimme, die nur ihm gehört: ›Ich bin Wolfgang Amadeus!‹, ›Ich bin Ludwig!‹, ›Ich bin Igor Fedorowitsch!‹, ›Ich, ich, Sibelius!‹. Das macht sie für Hörer mit sensiblen Ohren sofort erkennbar. Und in diesem Sinn kann ich Ihnen auf meine talmudische Art beweisen, dass Strawinskys Sacre kein revolutionäres Stück ist und doch ein revolutionäres Stück ist, weil es vorher oder seitdem nie etwas Ähnliches gegeben hat.«
    »Picasso«, sagte ich, »hat einmal gesagt, dass gute Künstler kopieren und große Künstler klauen.«
    »Genau. Und der Trick bei der Kunst besteht darin, zu wissen, wie man auf elegante Weise klaut.«
    »Und wenn es unbewusst passiert?«, fragte ich.
    »Klar. Alles ist unbewusst.«
    »Gibt es so etwas wie einen eleganten unbewussten Diebstahl?«
    »Wenn man ein guter Komponist ist«, antwortete er, »klaut man auf gute Weise.«
    Nun ging Bernstein zum Plattenspieler und legte das Scherzo und das Finale der Sinfonie auf. Nach ein paar Minuten nötigte ihn eine besonders eindringliche Passage (»Jerome Kern wäre sehr stolz gewesen auf diese Melodie«) zu einer schwungvollen Bewegung mit dem rechten Arm, und er sagte (in Richtung der unsichtbaren Streicher): »Jetzt singt … steht auf und
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