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Leonard Bernstein

Leonard Bernstein

Titel: Leonard Bernstein
Autoren: Jonathan Cott
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Kritiker den jungen Maestro des Exhibitionismus und der Gefühlsseligkeit am Pult bezichtigten. Doch wie Bernstein einmal versicherte: »Leben ohne Musik ist undenkbar. Musik ohne Leben ist akademisch. Deshalb ist meine Beziehung zur Musik eine totale Umarmung« – was den Ausruf in Schillers Ode an die Freude anklingen lässt: »Seid umschlungen, Millionen!«
    Anders als fast jeder andere klassische Musiker der jüngsten Vergangenheit hat sich Leonard Bernstein ganz entschieden und manchmal im offenen Widerspruch zu seinen Zeitgenossen geweigert, seine emotionalen, intellektuellen, politischen, erotischen und spirituellen Regungen von der musikalischen Erfahrung zu trennen. In seinen Vorlesungen 1973 an der Harvard University beschrieb er dies als eine »Vermählung von Form und Leidenschaft«, mit gelegentlicher »Glückseligkeit, wenn alles vieldeutig wird«. (Als er darüber nachdachte, ob er Mahlers wiederhergestellte 10. Sinfonie dirigieren sollte, sagte er unerschrocken zu einem Kollegen: »Ich habe nur eine Frage. Werde ich einen Orgasmus dabei kriegen?«) Und als er in seinem 1967 publizierten Essay »Mahler: His Time Has Come« [Mahler: Seine Zeit ist gekommen] eine Definition der »dualistischen Energiequellen« der Mahler’schen Sinfonien gab – zu denen er stets eine außerordentliche Nähe empfand –, könnte er sehr wohl an seine eigene komplexe, facettenreiche Persönlichkeit gedacht haben: Denn Mahler war für ihn »männlich-rau und weiblich-sanft, subtil und geradeheraus, raffiniert und grob, sachlich und sentimental, forsch und schüchtern, stolz und selbstvernichtend, selbstbewusst und unsicher, immer das eine und gleichzeitig das andere«.
    Vor allem war Bernstein in jedem Abschnitt seines Lebens und seiner Arbeit ein grenzenloser Enthusiast. Während unseres gemeinsamen Gesprächs erklärte er mir, dass das Wort »Enthusiasmus« von dem griechischen Adjektiv éntheos stamme, was »von einem Gott erfüllt« bedeutet und womit auch »leben ohne zu altern« gemeint ist, wie die Götter auf dem Olymp. Eine meiner Lieblingsgeschichten von Bernstein, die sein enthusiastisches Temperament wunderbar illustriert, handelt davon, wie er im Jahr 1986 den damals achtundzwanzigjährigen Michael Jackson – auch er war ein dem Alter trotzender musikalischer »Gott« – zu einem von ihm dirigierten Konzert der New Yorker Philharmoniker in der Royce Hall in Los Angeles einlud. Jackson war überwältigt von Bernsteins aufwühlender Darbietung, und in der Pause ging er hinter die Bühne, um dem musikalischen Potentaten seinen Tribut zu zollen. Der überschwängliche Bernstein, der Michael Jackson sehr bewunderte, nahm ihn daraufhin in die Arme, hob ihn hoch und küsste ihn auf den Mund. Als er wieder mit beiden Beinen auf dem Boden stand, konnte der atemlose Sänger den Dirigenten lediglich fragen: »Benutzen Sie immer denselben Taktstock?« Und 1973, als Bernstein auf Einladung eines ganz anderen Potentaten, Papst Paul VI., in Rom dirigierte, ließ ihm ein Freund vor dem Konzert ein Telegramm zukommen, in dem er ihn warnte: » DENK DRAN : AUF DEN RING , NICHT AUF DEN MUND !«
    Auch wenn Leonard Bernstein immer jung blieb wie ein griechischer Gott, hatte er wenig Zeit und Geduld für Förmlichkeiten und Etikette. Er war weder arrogant noch herablassend und kehrte nirgends den elitären Künstler heraus, sondern war von entwaffnender Offenheit und verlor niemals seinen robusten Sinn für Humor (es überrascht nicht, dass Gargantua und Pantagruel , Rabelais’ Roman aus dem sechzehnten Jahrhundert über die beiden derben und lebenslustigen literarischen Giganten, zu seinen Lieblingsbüchern gehörte). Und er sprach sich beharrlich und furchtlos gegen jegliche Art von sozialer und politischer Heuchelei aus, wodurch er sich selbst gelegentlich zur Zielscheibe für Spott und Verleumdungen machte.
    Nach seinem triumphalen Debüt 1943 mit den New Yorker Philharmonikern, als er über Nacht zum Wunderknaben avanciert war – und zudem fast täglich euphorische Artikel über ihn in der Presse erschienen –, erhielt er einen Brief von seiner Mutter Jennie: »Lieber Lenny«, ermahnte sie ihn, »bitte, gib den Reportern gegenüber deine persönlichen Ansichten nicht preis … das zeugt von schlechtem Geschmack. Es wird dir nicht guttun. Es könnte schlimme Folgen haben. Von jetzt an solltest du dich in deinen öffentlichen Verlautbarungen sehr konservativ geben. Das ist nur ein kleiner Rat von deiner Mutter, ich bin
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