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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried
Autoren: Exerzierplatz
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diesen Augenblick eine kleine Dose Kaffee verborgen hatte, die fischte er aus der knisternden Tiefe seines Strohsacks. Endlich, Max, endlich, hat der Chef einmal zu ihm gesagt, und Max darauf: Ja, endlich, Vater, und danach haben sie sich kopfschüttelnd und ungläubig und glücklich angesehen. Und später ist er mitten im Erzählen aufgestanden und hat seinen Seesack herangeschleppt, aus dem er mehrere gefütterte Etuis herausholte, in jedem Etui sechs Obstmesser aus Sterlingsilber, schöne Messer mit geschwungener, breiter Klinge. Jeder bekam eines der Etuis geschenkt, die er aus dem Krieg mitgebracht hatte, aus der Offiziersmesse, in die sie ihn als Steward kommandiert hatten.
    Hoffentlich stürzt die Apfelpyramide nicht zusammen, wenn ich mir im Vorübergehen ein paar schnappe, Dorothea hat mir zwar erlaubt, aus allen Fruchtschalen zu nehmen, die in der Festung herumstehen, doch sie weiß nicht, wie oft ich mich schon bedient habe. Dorothea spricht leise auf Ina ein, die in einem Ledersessel sitzt und vor sich hinweint, ich werde nichts sagen und einfach vorbeigehen, und wenn sie mich hören, werden sie schon denken, daß ich es gewesen bin, der da vorbeigegangen ist.
    In unserer Barackenzeit hat Ina mir einmal gezeigt, wie man einen Schmerz aushält; sie hat sich eine Stopfnadel – eine große, wie man sie zum Nähen von Säcken braucht – in die Hand getrieben, in den Handballen, ganz langsam hat sie die Nadel hineingedrückt, und ich habe in ihr mageres, wachsames Gesicht gesehen und mußte ihr bestätigen, daß nicht eine einzige Träne kam. Meistens war sie gut zu mir damals, wie oft schob sie mir heimlich zu, was sie nicht mehr essen wollte oder konnte; wir saßen nebeneinander am Tisch, und sobald sie eine angebissene Brotscheibe wie absichtslos auf ihren Schoß senkte, wußte ich bereits, daß die für mich bestimmt war. Aber sie hat mich auch traurig gemacht, besonders an einem Sonntag im Winter, als ich sie auf ihrem selbstgemachten Schlitten durch glitzernden Schnee zog und wir bei der Rückkehr vom verschneiten Dänenwäldchen ihren beiden Freundinnen begegneten. Die Freundinnen fragten sie, wer ich sei, und Ina nannte mich ihr neues Pferd, ihr Pferd Bruno, das alle Gangarten beherrschte; um es ihnen gleich zu beweisen, lud sie ihre Freundinnen ein, sich auf den Schlitten zu setzen, und obwohl ich müde war und meine Schulter weh tat, zog ich sie durch den Schnee, trabte, wie Ina es verlangte, machte kleine Galoppsprünge, zerrte und schnaufte, schwer war es die Hügel hinauf, hügelabwärts fuhr der Schlitten mir mit Wucht in die Kniekehlen, alles zu ihrer Freude. Ina hat behauptet, daß ich später, als wir allein waren, versucht haben soll, ihr den Hals zuzudrücken; unter den alten Kiefern soll es gewesen sein, wo wir uns nach ihrem Wunsch mit Schnee »einseiften«; aber davon weiß ich nichts, das muß sie erfunden haben. Zuhause hat sie es jedenfalls erzählt; ich lag auf meinem Strohsack und hörte ihre flüsternde Unterhaltung, trotz meiner Erschöpfung konnte ich nicht einschlafen, und ich bekam mit, wie Dorothea sie beruhigte und der Chef ihr behutsame Vorwürfe machte und sie zu Schonung und Nachsicht mir gegenüber ermahnte.
    Kann sein, daß er jetzt am Fenster steht und mich beobachtet, wie ich den Hauptweg hinabgehe, ich will mich nicht umsehen, obwohl ich ihm gern zuwinken möchte, ja, er beobachtet mich bestimmt, denn meine Beine versteifen sich und die Hand beginnt zu zucken und die Haut rauht sich auf wie von einem Schauer. Ich kann mir vorstellen, daß er sich eingeschlossen hat, um ungestört nachzudenken, über sich und uns alle, ganz besonders aber über das, was man ihm angetan hat. Vielleicht wird er sich auch daran erinnern, wie wir beide hier über das Land gingen, über dies zermahlene Soldatenland, er mit Hammer und Eisenrohr voran, das ihm einen richtigen Erdbohrstock ersetzte, und ich hinter ihm mit dem Beutel, in dem die Blechdosen schepperten.
    Nach seinem endgültigen Erwachen zog es ihn jeden Tag auf den verlassenen Exerzierplatz hinaus, er schritt ihn aus, er streifte durch Gebüsch und Kuschelfichten, ich sah ihn allein lange auf dem Hügel sitzen, fand ihn, wie er ganz alte Panzerspuren untersuchte, erkannte von weitem, wie er geborstenen, metallenen Krempel zusammentrug, das aber schon planvoll. Mit uns sprach er nicht über seine täglichen Gänge, er hätte sich wohl nur gefreut, wenn Max ihn begleitet hätte, bei jedem Aufbruch fragte er ihn, ob er nicht mit
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