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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried
Autoren: Exerzierplatz
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war, der mich einmal seinen einzigen Freund genannt hat, sitzt nach wie vor am Kopfende des Tisches, schluckt vor jeder Mahlzeit seinen doppelten Wacholder, den sein Sohn ihm serviert, schneidet aus Tradition das Fleisch und führt das Wort, dem, wenn es sein muß, nur einer widerspricht, Dorothea Zeller, seine Frau. Wenn Magda nur nicht vergißt, mir die neuesten Nachrichten aus der Festung zu bringen; seit dieser Serbe hier bei uns arbeitet, ist sie nur noch selten zu mir gekommen, dieser rotäugige Mirko, der mir immer eine Hand auf die Schulter legt, wenn er mit mir spricht. Vielleicht sollte ich mir ein Herz fassen und den Chef selbst fragen, er könnte mir eher als jeder andere sagen, ob ich nun fort muß aus Hollenhusen, fort von meinem Lieblingsquartier, den veredelten Blaufichten, die ich alle selbst gestäbt habe. So, wie wir miteinander stehen, ist es nicht ausgeschlossen, daß er mir sogar erzählt, warum sie ihn entmündigt haben – ihn, dem hier jeder etwas verdankt –, und was das alles für ihn bedeutet. Wenn ich nur in seiner Nähe bleiben darf.
    Nach seinen Anweisungen arbeite ich am liebsten; sagt er mir, daß ich unsere Windschutzpflanzung auslichten soll, dann zwitschert und schnappt und singt mein Werkzeug nur so im Thujagehölz, und die Hecke dankt uns bald mit ihrer Dichte und Schnellwüchsigkeit. Fast genau so gern lasse ich mir die Arbeit von Ewaldsen zuteilen, unserm Vorarbeiter, der auch im Sommer mit geflickten Gummistiefeln herumläuft, mir jeden Satz mehrmals wiederholt und noch jedesmal erstaunt war über die Menge der Pflanzen, die ich umtopfen konnte. Mit Joachim, dem Sohn des Chefs, hab ich meine Schwierigkeiten; gibt der mir Anweisungen, dann taucht er mehrmals unerwartet auf, kontrolliert, sieht auf die Uhr, überschlägt die Leistung; meist geht er kopfschüttelnd weg in seinen lederbesetzten Kniehosen. Wenn’s nach ihm ginge, dürfte ich wohl kaum hierbleiben; dabei hab ich ihn heranwachsen sehn und hab so manches Mal auf mich genommen, was er verschuldet hatte. Aufgeregt bin ich immer, wenn die Frau des Chefs mich rufen läßt; einmal soll ich ihr Kaminholz sägen und spalten, ein anderes Mal wünscht sie, daß ich die Kartoffeln in ihrem Keller verlese; sie bleibt dann immer dabei, nicht, um mich zu beaufsichtigen, sondern um mit anzufassen. Ihr helles Gesicht, das ich bei der Arbeit heimlich anschaue, beweist schon ihre Unabhängigkeit.
    Viel gäbe ich dafür, wenn Inas Kinder mir nichts zu sagen hätten, doch sie ist die Tochter des Chefs und lebt auch nach dem Unglück bei uns, und obwohl ich weiß, daß es ihre Söhne sind, die mir aus einem Versteck Erdklumpen oder Hölzer oder sogar Steine nachschmeißen, helfe ich ihnen beim Aufschlagen eines Zelts, wenn sie es wünschen, bringe ihnen ihre Schaukel an oder gehe zur Holle hinab, um in dem lichtarmen Flüßchen Kaulquappen für ihr Aquarium zu fangen.
    Ich bin mir doch nicht sicher, ob ich den Chef ansprechen soll; vielleicht war er an dem Abend, als er mich beim Kauen der Fichtennadeln überraschte, nur deshalb so einsilbig, weil er mir noch immer den Verzicht auf sein Geschenk nachträgt. Auch wenn ich einiges von ihm gewohnt bin, erschrockener war ich nie. Er ist einfach zu mir hereingekommen an einem Sonntag, hat sich hingesetzt und mich lange angesehen mit seinen eisblauen Augen, und dann hat er angefangen, sich zu erinnern: wie wir gemeinsam dieses Land ausschritten, das durch viele Jahre, bis zum Ende des Krieges, ein Exerzierplatz gewesen war; wie wir uns der mineralischen Beschaffenheit des Bodens durch Knet- und Fingerproben versicherten; wie wir uns sorgten, ob die von weither aus dem Osten mitgebrachten Samen keimen würden. Und plötzlich hat er seine Taschenuhr herausgezogen und sie mir mit geöffnetem Sprungdeckel zugeschoben, und da ich zögerte, die goldene Uhr zu berühren, sagte er: Damit du etwas hast, das dich an unsere Anfänge erinnert; doch ich wagte es immer noch nicht, die Uhr in die Hand zu nehmen, denn auf dem Sprungdeckel war etwas eingraviert. Soviel er auch nickte und drängte, ich rührte die Uhr nicht an, weil ich mit ihr sofort aufgefallen wäre oder mich sofort einem Verdacht ausgesetzt hätte, und wenn ich etwas zu vermeiden versuche, dann ist es dies: aufzufallen. Ich habe starr auf die Gravur gedeutet, bis er sie endlich las; er schien nur ein wenig verblüfft und hat den Sprungdeckel zugedrückt und ist ohne ein weiteres Wort gegangen.
    Einen wüßte ich, der mir offen sagen
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