Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried
Autoren: Exerzierplatz
Vom Netzwerk:
Zeitungsanzeige, soviel ist sicher, um eine Bekanntmachung, von der Dorothea glaubt, daß sie etwas Gewöhnliches hat, gewöhnlich lautet, ich weiß nicht, was das Gewöhnliche ist, ob es wahr ist oder unwahr, über das Gewöhnliche hab ich noch niemals nachgedacht.
    Da bist du ja, Bruno, sagt sie und kommt mir schon entgegen, ihr Gesicht verrät nichts, Müdigkeit vielleicht, eine kleine Nervosität, doch nichts, was auf eine große Entscheidung schließen läßt. Ina nickt mir nur einmal zu und wendet sich gleich ab zum Fenster, zeigt mir ihren mageren Rücken. Geht es dir nicht gut, Bruno, fragt Dorothea, du siehst so abgespannt aus. Ich kann nur den Kopf schütteln, es gelingt mir nicht, viel zu sagen in ihrer Nähe. Max kommt also, er kommt mit dem Mittagszug, wie immer wird er in seinem ehemaligen Zimmer schlafen, auf dem Feldbett, nur ein paar Tage. Ich weiß schon Bescheid, und sie sieht mir wohl die Freude an über den angekündigten Besuch, denn sie sagt nur: Auch wir freuen uns auf ihn.
    Wenn Max sich aufrichtet auf seinem Feldbett, kann er weithin über unsere Quartiere sehen, bis zu der Stelle, an der früher die Baracken der Soldaten standen, acht hölzerne Baracken mit Teerpappdach und Tarnanstrich, und wenn er aufsteht und ans andere Fenster geht, kann er das Dänenwäldchen erkennen und den Großen Teich. Jetzt sind sie weg; die alten Kiefern, in denen die Krähen nisten, sind noch da, aber die Baracken sind weg, und nichts erinnert mehr daran, daß wir dort einmal lebten mit tausend anderen, die ankamen von irgendwoher und einen Raum besetzten und lebten und warteten.
    Der Chef zog mich einfach da hinein; er, der alles erfährt, hatte herausbekommen, daß Dorothea mit Joachim und Ina dort schon wohnten, und er zog mich in ihren Raum, als ob ich bereits zu ihnen gehörte, und ließ mich die Begrüßung erleben und das Weinen und Trösten und alles. Dann sagte er: Ich hab euch noch jemanden mitgebracht, der erst einmal bei uns bleiben wird. Das hat er gesagt, und das war für den ersten Tag schon alles. Ina wußte, wo es einen Strohsack zu holen gab, wir haben ihn zusammen in der Dunkelheit weggetragen, und als alles gut gegangen war, haben wir nebeneinandergesessen und uns gemeinsam gefreut. Der Chef wollte an der Wand schlafen, ich schlief zwischen ihm und Joachim, und Dorothea und Ina schliefen hinter der Zeltplane und der Decke.
    Bestimmt haben sie Max gerufen, weil seine Stimme im Rat nicht fehlen darf, vermutlich brauchen sie sogar seine Hilfe; ich kann mir denken, daß sie jetzt angewiesen sind auf ihn. Obwohl ich immer zu ihm kommen kann, wenn mich etwas bedrückt, möchte ich ihn nicht gleich mit meinen Fragen bedrängen, und wenn ich es später tue, muß ich aufpassen, daß ich Magda nicht verrate. Wenn du mich verrätst, Bruno, hat Magda gesagt, wird es mir um jedes Stück Brot leid tun, das ich dir gebracht habe.
    Vielleicht lädt Max mich ein, ihn wie so oft zu begleiten, immer an der Holle entlang, zur Gerichtslinde und zu den beiden Hünengräbern, ich weiß schon gar nicht mehr, wie viele Male ich mit ihm auf den Steinen saß und ihm zuhörte. Dort könnte ich ihn fragen, vor der morschen, ausgehöhlten Gerichtslinde, an die ich einmal gefesselt war mit Stricken, kreuzweis, stramm gefesselt, und es dennoch eine ganze Nacht aushielt, ohne um Hilfe zu rufen, ohne einen Namen preiszugeben. Dort könnte ich ihn fragen, weil das der alte Platz ist, an dem er auch mir unzählige Fragen gestellt hat, nach meinen frühesten Erinnerungen zum Beispiel, nach meinen Bedürfnissen und Enttäuschungen und nach sogenannten Zielen, von denen ich mich leiten lasse.
    Solche Fragen hat Joachim mir nie gestellt, der wollte anfangs immer nur erzählt bekommen, was alles sein Vater riskiert hat, um mich zu retten, zuerst beim Untergang des großen Landungsprahms und dann, als die gutmütige »Stradaune«, die uns an Bord genommen hatte, im Morgengrauen auf ein Wrack lief und in der Länge ihres ganzen Vorschiffs aufgeschlitzt wurde, wie mit einem Messer aufgeschlitzt. Er unterbrach mich nur selten, er hörte mir so nachdenklich zu, als ob er da ständig etwas verglich und erwog, und ich hab schließlich darauf geachtet, daß ich immer dieselben Worte gebrauchte. Mir entging nicht, wie aufmerksam er sich die Narben auf meiner Wange ansah, diesen rotblauen Narbenkelch unter meinem leckenden Auge – so hat er es selbst einmal genannt: Leckauge –, und er nickte nur, wenn ich ihm erzählte, daß es sein Vater
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher