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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried
Autoren: Exerzierplatz
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trete, bin ich fast da, und Inas Kinder haben keine Zeit mehr, sich etwas auszudenken. Einmal haben sie mich mit einem Lehmbrocken über dem Auge getroffen, es blutete ein wenig, ohne daß ich es merkte, der Chef hat von mir nicht erfahren, woher die kleine Wunde stammte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte auch ich in der Festung wohnen sollen, in der gemütlichen trockenen Kellerwohnung, die er eigens für mich gedacht hat – sogar eine eigene Treppe hat er bauen lassen, die von Rhododendron beschattet wird –, doch ich hielt es nicht aus, ich blieb gerade einen Monat da unten. Ich konnte machen, was ich wollte; jeden Abend, wenn ich zu mir hinabstieg, begegnete ich meinen Eltern, meist kauerten sie schon hinter dem vergitterten Fenster und riefen mich leise an, pochten zuerst an die Scheibe und riefen mich dann an und gaben mir Zeichen, langsam, wie erschöpft; ihre Zeichen konnte ich nicht deuten. Sie trugen schäbige Kleidung, sie schienen weither gekommen zu sein, manchmal fand ich den Abdruck eines Körpers auf meinem Bett, so daß ich annehmen mußte, einer von ihnen habe sich dort ausgeruht; ab und zu stand auch die Tür des Schranks offen. So laut ich auch sprach und rief, sie verstanden mich nicht; sie verstanden mich einfach nicht und gingen enttäuscht fort in ihrer abgetragenen Kleidung. Es war ein Monat der Schlaflosigkeit. Der Chef war schnell einverstanden, als ich ihn darum bat, mir wieder die alte Wohnung zu geben neben dem Gewächshaus; er versuchte erst gar nicht, mich zum Bleiben zu überreden.
    Vielleicht wird die Frau des Chefs mir erzählen, was geschehen ist und worauf ich mich gefaßt machen muß, auch wenn sie hier und da Ungeduld mit mir zeigte, war sie immer gut zu mir, sie sorgte, daß ich meinen Teil bekam, und hat mir so manches Mal gesagt, daß ich zu ihnen gehöre. Ich komme einfach nicht von ihrem hellen Gesicht los, es ist so schön und ebenmäßig, am liebsten möchte ich es berühren, doch das wird sie nie erfahren, auch mit all ihrer Klugheit nicht. Es ist schwer, Wünsche zu verbergen, vielleicht ist es das schwerste in der Welt. Für mich nenne ich sie Dorothea. Wenn ich sie heimlich ansehe, muß ich oft daran denken, daß sie mich einmal geküßt hat, in einem Winter vor langer Zeit, als wir alle noch in der Baracke lebten, in einem einzigen Raum, den wir mit Hilfe einer Zeltplane und einer Decke geteilt hatten. Ich war im Schneetreiben von einem fahrenden Güterzug gefallen; ich hatte ihn bei der langen Kurve hinter dem Exerzierplatz abgepaßt, war aufgesprungen, hatte in aller Hast ein paar mächtige Kohlebrocken hinabgeworfen, die Max und der Chef einsammelten; dann war ich ausgerutscht und gefallen. Sie betteten mich dicht beim gußeisernen Ofen, ein alter Arzt kam, der in einer Nachbarbaracke wohnte, ich glaubte, daß ich nun sterben müßte. Dorothea saß länger bei mir als alle anderen, sie trocknete mein schweißnasses Gesicht ab und lächelte mir zu, sie brachte mir Milch, Kamillentee, einmal einen Riegel Schokolade, den ich gleich aufessen mußte. Winternebel hing zwischen den Baracken, ließ den Tarnanstrich verblassen; jeden Morgen war das Fenster von Frostblumen beschlagen, die ich zu bestimmen versuchte, bevor sie in der allmählich aufkommenden Wärme wegschmolzen. Der alte Arzt sprach nie mit mir, er unterhielt sich nur flüsternd an der Tür mit Dorothea und entfernte sich mit Trippelschritten über den hellhörigen Gang, der an manchen Stellen, besonders am Eingang, ganz ausgetreten und abgewetzt war von den Stiefeln der Soldaten. Und als ich ihn an einem Abend fragte, ob ich bald sterben würde, kniff er mich nur in die Wange, und nachdem er gegangen war, setzte sich Dorothea auf den Rand meines Lagers und küßte mich auf beide Augen. Du wirst bald aufstehn, Bruno, hat sie gesagt, bald.
    Am liebsten möchte ich mir gleich zwei Äpfel aus der Schüssel nehmen, aber von der Wand sieht aus dunkel glänzendem Rahmen der Vater des Chefs herab, er scheint die Äpfel zu bewachen, er scheint den Ein- und Ausgang zu kontrollieren. Wie gern hätte ich ihn hier in Hollenhusen erlebt, nach allem, was ich weiß, muß er ein wortarmer, gütiger Mann gewesen sein, ein Einzelgänger auf seinem Feld.
    Sie weist Ina zurecht, das ist die Stimme von Dorothea, die ihre Tochter zurechtweist; ich darf nicht zuhören, jetzt muß ich mich bemerkbar machen, mich melden, auch wenn ich etwas erfahren könnte, was vielleicht wichtig ist für mich. Es geht um eine
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