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Lenobias Versprechen: Eine House of Night Story (German Edition)

Lenobias Versprechen: Eine House of Night Story (German Edition)

Titel: Lenobias Versprechen: Eine House of Night Story (German Edition)
Autoren: P.C. Cast , Kristin Cast
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Schwester morgens so in ihre Andacht vertieft – die Augen geschlossen, die Finger zählend am Rosenkranz –, dass es ein Leichtes war, sich unbemerkt an ihr vorbei aus dem Zimmer zu stehlen.
    So wurde es Lenobia zur Gewohnheit, vor allen anderen aufzustehen und durch das Schiff zu streifen, wobei sie viele einsame Winkel und viel mehr Schönes fand, als sie sich je hätte träumen lassen. Sie war auf dem besten Wege gewesen, verrückt zu werden – eingesperrt in diesem einen Zimmer, immer in Angst vor dem Bischof, gefesselt von ihrer vorgetäuschten Krankheit. Eines frühen Morgens, als alle Mädchen und selbst Schwester Marie Madeleine noch tief und fest schliefen, hatte sie sich wagemutig aus dem Zimmer geschlichen. Die See war rau – der Sturm kam gerade erst richtig auf –, aber Lenobia hatte keine Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Sie freute sich am Schaukeln und Schlingern der Minerva . Sie freute sich auch daran, dass wegen des schlechten Wetters selbst ein großer Teil der Besatzung in ihren Quartieren blieb.
    Wachsam und angestrengt lauschend glitt sie von Schatten zu Schatten bis in einen abgelegenen Winkel auf Deck. Dort stand sie an der Reling, atmete tief die frische Luft ein und sah hinaus auf das Wasser, den Himmel und die unendliche Leere dazwischen. Sie dachte an gar nichts – sie genoss einfach nur die Freiheit.
    Und da geschah etwas Wunderbares.
    Der Himmel wandelte sich von kohlschwarz und grau zu rosé und pfirsichfarben, primel- und safrangelb. Im Spiegel des unendlichen, kristallklaren Ozeans wurde das Farbenspiel geradezu atemberaubend, und plötzlich war alles von einer Herrlichkeit durchdrungen, die Lenobia in ihren Bann schlug. Gewiss, auch auf dem Château war sie oft vor Morgengrauen auf gewesen, aber da hatte es immer etwas zu tun gegeben. Sie hatte nie die Zeit gehabt, sich hinzusetzen und zu beobachten, wie die Farben am Himmel spielten und die Sonne sich wie durch Zauberhand vom fernen Horizont erhob.
    Von diesem Morgen an wurde der Anblick Teil ihrer eigenen Andacht, denn auf ihre Weise war Lenobia ebenso fromm wie Schwester Marie Madeleine. Zu jedem Tagesanbruch stahl sie sich auf Deck, suchte sich einen abgelegenen, einsamen Platz und sah zu, wie der Himmel die Sonne willkommen hieß.
    Und jedes Mal dankte sie dafür, dass sie Zeuge dieses Wunders werden durfte. Den Rosenkranz ihrer Mutter in der Hand, betete sie innig darum, noch einen weiteren Sonnenaufgang unbemerkt und unentlarvt sehen zu dürfen. Solange sie es wagte, blieb sie auf Deck, bis die Geräusche der erwachenden Mannschaft sie wieder nach unten trieben, wo sie in die Kabine schlüpfte und sich wieder in die kranke, schwache Einzelgängerin verwandelte.
    Erst nach ihrem dritten Morgen an Deck, als sie sich auf dem immer vertrauter werdenden Weg wieder in ihr Zimmer begeben wollte, fand Lenobia die Pferde – und ihn. Sie wollte gerade die Treppe in den Gang hinunternehmen, da hörte sie unten Männerstimmen und war so gut wie sicher, dass eine davon – die schroffste – dem Bischof gehörte. Sie dachte keine Sekunde nach, sondern schürzte ihre Röcke und floh so schnell und leise wie möglich in die entgegengesetzte Richtung. Von Schatten zu Schatten flitzend, brachte sie Abstand zwischen sich und die Stimmen. Als sie an einer schmalen rundbogigen Tür ankam, von der aus eine Treppe fast so steil wie eine Leiter nach unten führte, zögerte sie nicht. Sie kletterte einfach hinab, bis tief in den Bauch des Schiffes.
    Sie roch sie, ehe sie sie sah – den vertrauten, tröstlichen Duft nach Pferden, Heu und Mist. Vermutlich hätte sie hier nicht lange verweilen sollen. Sie war sich recht sicher, dass keines der anderen Mädchen den Pferden auch nur eine Sekunde Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Doch Lenobia war nicht wie andere Mädchen. Sie hatte Tiere schon immer geliebt – alle Tiere, doch Pferde ganz besonders.
    Die Geräusche und der Duft zogen sie an wie der Mond die Flut. Die großen rechteckigen Öffnungen im Zwischendeck über ihr spendeten erstaunlich viel Licht, und ohne Mühe schlängelte sich Lenobia zwischen Kisten und Säcken, Fässern und Kübeln hindurch, bis sie vor einem improvisierten Verschlag stand. Über die halbhohe Wand hinweg streckten sich zwei große graue Köpfe, die Ohren wachsam in ihre Richtung gewandt.
    »Oooooh! Was seid ihr beiden aber süß!« Vorsichtig, um keine dummen plötzlichen Bewegungen zu machen und sie zu erschrecken, näherte sie sich den beiden. Sie
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