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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn
Autoren: Stefan Slupetzky
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schwarzen Augen. Wie durch zwei weitgeöffnete Schleusen brauste hier der Kosmos in ihn hinein – und aus ihm heraus. Wenn er in seiner Wippe saß, breit und behäbig, aber mit hellwachem Blick und gerunzelter Stirn, dann konnte man fast meinen, er bestehe nur aus diesen Augen. Und aus dem wabbelnden Doppelkinn, das – dank Klaras gehaltvoller Kost – sein rundes Gesicht umsäumte.
     
    Ben und Klara, Castro und der rote Engel: Ein wahrhaftig großer Sommer war das, und ein noch größerer Herbst. Das Schicksal hat es gut mit dem Lemming gemeint, es hat ihn mit einer Überfülle nie geahnten Glücks bedacht.
    Aber das Glück ist bekanntlich ein Vogerl: Es fliegt gnadenlos weiter, sobald sich das Jahr seinem frostigen Ende zuneigt.

5
    Das Aufreißen ist eine eigene Sportart in Wien, ein Massensport, dessen Facetten und Variationen von schier unendlicher Vielfalt sind. Den Amateuren bleibt das Aufreißen von Briefkuverts und Fenstern vorbehalten, darüber hinaus das von Ärschen und Goschen, von Haserln und Haberern, Räuscherln und anderen Unpässlichkeiten. Will man dagegen ein richtiger Profi sein, dann muss man in einer der städtischen Mannschaften anheuern, die mit der Wartung des Straßennetzes und der darunterliegenden Leitungen betraut sind. Das Öffnen der Straßendecke hat sich nämlich in der Donaumetropole längst zur Königsdisziplin des Aufreißens entwickelt. Obwohl vom Wesen her ein Sommersport, wird es auch gerne im Winter ausgeübt, sofern die Witterung das zulässt. Ist die Jahreszeit bei der Planung der Spieltermine also nur nebensächlich, so müssen die Aufreißer trotzdem eine gravierende zeitliche Einschränkung hinnehmen: Der tägliche Verkehrsfluss, der ja – als pumpende Ader der Wirtschaft – dem Wohl aller Bürger dient, darf nicht unterbrochen werden. Deshalb wird möglichst nur während der Nachtstunden aufgerissen. Kaum ist der Autolärm versiegt, kaum neigt sich der Tag, des steten Donnerns der Motoren müde, seinem Ende zu, da flammen die Flutlichter auf, und die Athleten betreten das Spielfeld. Der Magistrat hat sein Team mit flotten orangefarbenen Dressen ausgestattet, brandgefährlich wirken die Männer im Gleißen der Scheinwerfer. Zu Recht: Was Österreichs Fußballer schon seit Jahrzehnten nicht mehr zuwege bringen, das schaffen die Aufreißer Wiens: Sie gewinnen. Sie besiegen den Asphalt in jeder Nacht aufs Neue, da kann die Begegnung Mann gegen Straße noch so brutal sein   …
     
    «Entschuldigen Sie   … Entschuldigen Sie! Hallo!»
    Keine Chance, sich verständlich zu machen. Der Lemming kann sich selbst nicht hören; er spürt nur die sanften Vibrationender Stimmbänder in seinem Kehlkopf. Ein Stück weiter unten, im Zwerchfell, wüten dagegen die Stöße des Drucklufthammers. Ein Betonsplitter spritzt an seiner Schläfe vorbei und verschwindet im Dunkel der Nacht.
    «Entschuldigen Sie!»
    Endlich eine Pause. Der Mann im gelbroten Trikot blickt auf; sein Gesichtsausdruck ändert sich schlagartig: Eben noch – beinahe meditativ – in seine Attacke gegen die Fahrbahn versunken, geht er jetzt unwillkürlich in Abwehrhaltung, als hätte er diesen Spielzug hundertmal trainiert: Abschätzig sieht er den Lemming an.
    «Ja?», meint er knapp. Dann aber huscht ein belustigtes Grinsen über seine Lippen, ein Grinsen, das ohne Zweifel dem Dress seines Gegners gilt: ein rotgeblümter Schlafrock, aus dem fahle, nackte Beine schauen. Die Füße des Lemming stecken in klobigen Stiefeln, seinen Kopf ziert eine dicke Pudelmütze. Es ist die lächerliche Kleidung eines Dilettanten, hastig zusammengerafft, um in kalter Adventnacht den Angriff auf einen Titanen der Straße zu wagen.
    «Ich wollte nur fragen   … was machen Sie hier um drei Uhr früh?»
    «Na, aufreißen halt.»
    «Und warum?»
    «Leitungsarbeiten.»
    «Ich meine, warum heute, warum jetzt? Am dreiundzwanzigsten Dezember, mitten in der Nacht!»
    «Auftrag, gnä’ Herr. Is alles genehmigt. Sie wollen ja selber auch mit’n Auto fahren untern Tag.»
    Der Lemming fröstelt. «Ich habe kein Auto», sagt er und zieht den Kragen des Schlafmantels enger.
    Der Aufreißer stutzt. Skeptisch zunächst, dann mitleidig, schließlich verächtlich, so mustert er sein Gegenüber. Ein Mann ohne Auto, das will erst einmal verdaut sein. «Meiner Seel», brummt er nach einer Weile und schüttelt den Kopf,um sich vom Lemming ab- und wieder seiner Arbeit zuzuwenden. Doch der Lemming lässt nicht locker.
    «Jetzt hören S’ einmal her:
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