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Lemberger Leiche

Lemberger Leiche

Titel: Lemberger Leiche
Autoren: Sigrid Ramge
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angekommen und wohnt nicht weit von dem Hotel, in dem ihr Bruder arbeitet.«
    »Wieso hat Line eigentlich schon Urlaub bekommen?«, wunderte sich Irma. »Ein Azubi in einem Reisebüro sollte doch in der Hauptsaison genug zu tun haben.«
    »Es ist eine Dienstreise«, erklärte Helene. »Line wurde geschickt, weil sie Spanisch spricht und sich auf der Insel auskennt. Sie soll Hotels oder Fincas suchen, die als Ausgangspunkt für Wanderungen geeignet sind. Line hat gesagt, das sei ein Abwasch: Recherche und ein bisschen Urlaub.«
    Helene überlegte, ob sie die Frage, die sie drückte, stellen sollte oder lieber nicht. Sie war sich sicher, Irma hatte nur nach Line gefragt, weil sie etwas von Leo, Lines Bruder, erfahren wollte.
    Sie zupfte an ihren weißen Löckchen und fragte beiläufig: »Und du, hast du was von Leo gehört?«
    »Wir schicken uns ab und zu SMS. Keine Liebesbriefe, wenn du das meinst.«
    »Ich meine gar nichts«, brummte Helene. »Aber ich nehme an, du verbringst deinen Urlaub dieses Jahr auf Mallorca. Oder soll ich sagen: bei Leo?«
    »Wir werden uns erst im Spätherbst wiedersehen. Ein Fitnesstrainer kann sich während der Hauptsaison nicht frei nehmen.«
    Helene tätschelte Irmas Hand. »Du solltest mehr Zeit für dein Privatleben haben. Zum Beispiel für Leo. Du magst ihn doch.«
    »Damit liegst du nicht ganz falsch«, sagte Irma verlegen. »Es ist schon wieder fünf Wochen her, seit er zwei Tage in Stuttgart gewesen ist. Vor dir, Helene, kann ich ja zugeben, dass ich seitdem Sehnsucht habe.«
    »Seitdem? Seit er hier war? Ist da was passiert, von dem ich nichts weiß? Heißt das, es wird langsam ernst mit euch beiden?« Helene hielt sich die Hand vor den Mund und murmelte: »Na ja, das geht mich nun doch nichts an.«
    »Genau«, sagte Irma. »Außerdem weiß ich selbst nicht, was das mit uns wird. Falls Leo den Job als Sportlehrer an der Bismarckschule bekommt – und vorausgesetzt, er nimmt ihn auch an – dann wäre das ein Zeichen, dass er künftig in meiner Nähe sein möchte.« Irma klatschte nach einer Fliege, die über ihren Arm krabbelte und die Sommersprossenbesichtigte, guckte ihr hinterher und sagte: »Glück gehabt.«
    »Find ich auch!«, schrie Helene.
    Allerdings meinte sie nicht die Fliege, sondern das vierte Tor für Deutschland. Das hatte sie trotz ihres Desinteresses nicht überhören können. Das Triumphgeschrei der Fußballfans machte eine weitere Unterhaltung unmöglich.
    Irmas geheimer Wunsch, dass nach dem Abpfiff, mit dem das grandiose 4:1 für Deutschland besiegelt war, nun Ruhe einkehren möge, erfüllte sich nicht. Die Fußballfans waren völlig aus dem Häuschen. Dazu knallten Böllerschüsse und kreischten Vuvuzela-Chöre aus dem Tal herauf und schnitten die heiße Luft in Scheiben.
    Auch nachdem das Fußballspiel zu Ende war, ebbte der Geräuschpegel auf dem Lemberg nur zögerlich ab. Es verging mindestens eine halbe Stunde, bevor es hin und wieder kurze Phasen von Stille gab, in der die Unterhaltung der Gäste, Gläserklingen und sogar Vogelgezwitscher aus den Weinbergen und dem Wald zu hören waren.
    Doch kaum hatten Irma und Helene begonnen, diese Ruhe zu genießen, setzten sich zwei Frauen auf die Plätze gegenüber. Die Ältere war wortkarg und spähte umher, als suche sie jemanden. Die Kleinere plapperte drauflos und fragte, wie das Fußballspiel gelaufen sei, wann und wer die Tore geschossen habe. Irma gab einsilbige Antworten und versuchte aus alter Gewohnheit, die beiden Frauen in verschiedene Schubladen einzusortieren. Die Größere, stattliche, wirkte bieder und mochte vierzig Jahre alt sein. Krankenschwester? Schuhverkäuferin? Hausfrau? Lehrerin? Sie passte in keine Schublade. Die kleinere war zierlich und mindestens fünfzehn Jahre jünger. Schublade: spätpubertierende Göre.
    Die Ältere beteiligte sich an den Fragen und Antworten, die etwas zäh am Tisch hin- und hergingen, nur mit Nicken und Kopfschütteln. Nachdem sie über den Spielverlauf informiert war, gab sie ungefragt eine Erklärung ab.
    »Wir wollten spätestens zur Halbzeit hier oben sein, aber am Zuffenhausener Bahnhof ist uns der Pendelbus vor der Nase weggefahren.« Sie schob den dicken aschblonden Mozartzopf, der nach vorn gerutscht war, auf den Rücken und seufzte. »Was blieb uns anderes übrig, als in einem Gewaltmarsch durch den Wald bis rauf zum Feuerbacher Höhenweg zu laufen?« Fahrig wischte sie sich mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn und murmelte: »Zum Teufel aber
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