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Lemberger Leiche

Lemberger Leiche

Titel: Lemberger Leiche
Autoren: Sigrid Ramge
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ließ Frau Kurtz durchblicken, es nicht mehr länger in der Bank aushalten zu können.
    Frau Schick sagte: »Dann gehen Sie jetzt nach Hause, Frau Kurtz. Sie haben heute genug durchgemacht. Ruhen Sie sich aus, wir räumen hier auf, so gut es geht.«
    »Ja, aber ab morgen habe ich doch Urlaub – ich wollte heute hier noch Verschiedenes erledigen.«
    »Den Urlaub haben Sie nach der Aufregung wirklich nötig«, versicherte Frau Schick. »Wir schaffen das schon allein.« Sie schauderte zusammen und flüsterte: »Wenn ich bedenke, was hätte passieren können, wenn dieser kaltblütige Verbrecher noch da gewesen wäre, als Sie heute Morgen mutterseelenallein in die Bank gekommen sind!«
    »Ja, da habe ich wirklich Glück gehabt«, sagte Frau Kurtz.
    Nachdem einer nach dem anderen der Chefin einen erholsamen Urlaub gewünscht und sie ihrem Vertreter Herrn Kleiber die Schlüssel ausgehändigt hatte, verließ Frau Kurtz die Bank. Sie, die sonst immer forsch auf ihren flachen Absätzen unterwegs war, lief leicht gebeugt über die Straße.
    Herr Kleiber nahm das Schild »Geschlossen« von der Eingangstür, ergänzte es zu »Heute ganztägig geschlossen« und hängte es wieder auf.

    Brünnhilde Kurtz ging auf direktem Weg nach Hause. Sie fror. Daran konnte auch die Temperatur, die inzwischen wieder 30 Grad erreicht hatte, nichts ändern.
    Daheim ließ sie sich ein heißes Bad ein. Ihre beige Seidenbluse und die braune Leinenhose waren feucht und zerknittert. Kalter Schweiß hatte BH und Slip auf die Haut geklebt. Sie schälte sich ein Kleidungsstück nach dem anderenvom Leib und warf es mit spitzen Fingern in den Korb neben der Waschmaschine. Dann stieg sie in die Wanne, die für sie zu kurz war. Die Knie ragten aus dem Schaumberg heraus. Erik hatte es gut, dachte Brünnhilde, für ihn war die Wanne wie gemacht. Sie schloss die Augen und sah Eriks zierlichen Körper und sein lachendes Gesicht im Wasser verschwinden, um dann prustend wieder aufzutauchen. Brünnhilde gestand sich ein, dass sie ihn vermisste. Sie rutschte so weit wie möglich unter den Schaumberg, schloss die Augen und dachte daran, wie sie Erik kennengelernt hatte.
    Die Situation war außergewöhnlich und nicht ungefährlich gewesen: In einer kalten, regnerischen Nacht war Brünnhilde am Feuerbacher Bahnhof aus der S-Bahn gestiegen. Sie kam aus der Innenstadt, in der die Geschäfte bis zehn Uhr geöffnet waren. Sie war schlecht gelaunt, weil sie stundenlang in Modegeschäften gestöbert hatte, ohne etwas Passendes zu finden. XXL war zu weit und alles andere zu kurz.
    Brünnhilde lag in der Badewanne und sah hinter ihren geschlossenen Lidern, wie sie in jener Nacht den Bahnhofsvorplatz überquerte. Auf halber Strecke hörte sie barsche Stimmen, blieb stehen und schaute zurück. Am Parkplatz war ein Gerangel im Gange. Zwei bullige Typen hielten einen zierlichen Jungen im Schwitzkasten. Aus den Satzfetzen, die Brünnhilde aufschnappte, folgerte sie, dass es um Geld ging. Weil der Junge beteuerte, nur Kleingeld bei sich zu haben, schlugen die zwei auf ihn ein. Er winselte wie ein Hund, ging zu Boden und versuchte, sein Gesicht mit den Händen zu schützen. Bei jedem Tritt, den die zwei Kerle dem Kleinen verpassten, lallten sie frivole Flüche. Brünnhilde hielt sie für sturzbetrunken. Beide waren fast so groß wie sie und ließen sich von ihr, die jetzt dicht neben ihnen stand, nicht stören.
    Einer stieß sie gegen die Schulter und knurrte: »Mach die Fliege, Alte!«
    Der Junge, der auf dem Pflaster lag, bemerkte Brünnhilde, und als ob er hoffte, es handle sich um seinen Schutzengel oder so etwas in der Art, streckte er die Arme nach ihr aus. Im Schein der Straßenlaterne sah sie seine Augen. Dunkle Samtaugen, in die schwarze strähnige Haare hingen. Augen, die sich nun flehend an ihre hefteten. In diesem Moment empfand sie ein Gefühl, das sie noch nie gespürt hatte: Mitleid. Es war da, dieses Mitleid, wenn auch stark überdeckt mit einem ihr sehr bekannten Gefühl. Mit dieser Stinkwut, die sie in letzter Zeit immer öfter überfiel wie ein Hexenschuss. Diese Wut, die von ihr Besitz nahm, sobald ihr das eintönige Leben, das sie führte, bewusst wurde. Es war die Wut, die sie nur abbauen konnte, während sie ihren Boxsack bearbeitete.
    Diesmal richtete sich ihre Wut gegen die zwei Schläger. Ihre Wut ballte sich in ihrer Faust zusammen und sie verpasste einem der Angreifer eine abrupt geschlagene Gerade. Er fiel wie ein nasser Sack aufs Pflaster. Während er
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