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Lemberger Leiche

Lemberger Leiche

Titel: Lemberger Leiche
Autoren: Sigrid Ramge
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Blut spuckte, schnappte sie den anderen am Kragen und setzte ihn energisch daneben, dabei gab es einen Ton, als wäre ihm das Steißbein gebrochen. Der eine hielt sich das Kinn, der andere den Po. Beide glotzten entgeistert zu ihr empor. Sie ballte erneut ihre Rechte. Als sie zum Schlag ausholte, hinderte sie die Winselstimme des kleinen Schwarzhaarigen daran, zuzuschlagen.
    »Es reicht!«, wimmerte er. »Sonst kriegen wir noch die Polizei auf den Hals.«
    Sie ließ die Faust sinken. Obwohl ihre Wut noch lange nicht verraucht war, unternahm sie nichts, um die beiden Schläger, die sich nun klammheimlich verdrückten, zurückzuhalten. Stattdessen beugte sie sich zu dem Jungen hinunter und zog ihn hoch. Und weil er schwankte, setzte sie ihn auf die Bank und sich daneben.
    »Also«, sagte sie streng. »Was hat ein mickriger Minderjähriger mitten in der Nacht auf der Straße zu suchen? Und wieso hast du Angst vor der Polizei?«
    Das waren zwei heikle Fragen, und es dauerte eine Weile, bis sie beantwortet waren. Er antwortete mit einer hellen, sanften Stimme, die zu einem Mädchen hätte gehören können.
    Brünnhilde erfuhr, dass der Junge durchaus nicht minderjährig, sondern dreiundzwanzig Jahre alt war, was sie, als sie ihn nun genauer betrachtete, glaubte. Er hieß Erik Raabe und sagte, er müsse der Polizei aus dem Wege gehen, da er wegen eines kleinen Strafdeliktes, wie er seinen Autodiebstahl nannte, erst vor drei Tagen von Frankfurt nach Stuttgart abgehauen sei. Per Anhalter mit einem Viehtransporter.
    Sie kräuselte die Nase und sagte: »Schafe. Du stinkst nach Schafmist! Und wo hast du dich seitdem herumgetrieben?«
    Erik erzählte, da er sich in Stuttgart nicht auskenne, habe er dank des guten Wetters bisher im Freien übernachtet.
    Sie fragte nicht nach Details, sondern sah forschend in seine Samtaugen und ließ ein langgezogenes »Und nun?« hören.
    »Ich weiß nicht, wohin«, stöhnte er und rieb sich die linke Seite, wo ihn die meisten Tritte getroffen hatten. »Mir tun alle Knochen weh, ich würde am liebsten hier liegen bleiben.«
    »Auf der harten Bank? Dann tut dir morgen früh garantiert noch mehr weh. – Kannst du laufen?«
    Er stand auf und humpelte probeweise hin und her, sagte leise: »Geht schon«, und ließ sich mit einem Seufzer wieder auf die Bank fallen.
    Brünnhilde spürte seinen Kopf an ihrer Schulter und merkte, dass er weinte. Zehn Minuten später waren sie gemeinsam zu ihrer Wohnung unterwegs.
    Die Bilder dieses Abends, an dem sie Erik vor dem Feuerbacher Bahnhof aufgelesen hatte, spukten Brünnhilde durch den Kopf, während sie immer noch in der Badewanne lag. Es war wie ein Film, der vor- und zurückgespult wurde. Das Wasser war längst kalt, aber nun war ihr heiß. Sie boxte gegen die Wand, steckte die Faust wieder ins Wasser und wartete,bis der Schmerz nachließ. Dann zog sie den Kopf unter Wasser und hielt die Luft an.
    Als ihr schwindelig wurde, tauchte sie auf und schrie: »Scheißspiel! Er fehlt mir!«
    Da konnte nur noch der Boxsack helfen. Sie bearbeitete ihn eine halbe Stunde lang. Ihre Schläge waren rabiat und unnachgiebig. Anschließend hockte sie keuchend unter der Dusche: Brühheiß. Eiskalt. Immer wieder.
    Es wurde schon hell, als sie endlich ins Bett sank. Bauchatmung, dachte sie. An angenehme Dinge denken. In fünf Stunden sitze ich im Flugzeug. Ich habe Urlaub verdient!

Drei
Dienstag, 29. Juni
    Fabian Knorr war wieder nüchtern. So nüchtern, dass er ernsthaft darüber nachzugrübeln begann, was seit Sonntagabend passiert war. Seine Erinnerungen endeten bei dem Streit mit Ariadne oder genauer gesagt, seit der Alkohol seinen Kopf erreicht hatte.
    Ariadne war seine Freundin. Sie war achtzehn, gleich alt wie er. Beide waren Azubis in einer Metzgerei. Fabian hasste diesen Beruf. Nicht dass es ihm schwerfiel, mit den Kunden umzugehen, dafür war er sogar recht talentiert. Was er hasste, waren die Produkte, mit denen er sich zu schaffen machen musste. Wurst abschneiden konnte er noch verkraften, aber Knochen zerhacken und Fleischstücke zerkleinern war nichts für Fabians »zartes Gemüt«, wie Ariadne sein Innenleben nannte. Sie selbst hatte keine Probleme mit Schweinehaxen, Kalbsköpfen oder gerupften Hähnchen. Für sie war es ein Vergnügen, mit bloßen Händen in rohem Hackfleisch zu manschen.
    Seit einem halben Jahr waren Ariadne und Fabian zusammen, gingen ins Kino oder spazieren. Am vorigen Wochenende hatten sie das erste Mal miteinander geschlafen. Das war
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