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Leitfaden China

Leitfaden China

Titel: Leitfaden China
Autoren: Hans Jakob Roth
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was noch schlimmer ist, wir urteilen relativ schnell über das Handeln der Anderen. Wir sehen alles durch die Brille des «gut» oder «schlecht». Wir müssten aber im Gegenteil die Umgebung einfach beobachten, wahrnehmen, ohne gleich nach Erklärungen zu suchen. Ein Verstehen wird sich in Gesprächen mit Lokalpersonen dann langsam ergeben. Diese Vorgehensweise erlaubt es, China schliesslich aus sich selbst heraus zu begreifen und in diesem anderskulturellen Umfeld auch richtig zu handeln.
    Der Versuch hingegen, die Fremdkultur mit unserem bereits vorhandenen Erfahrungsschatz zu verstehen, ist grundsätzlich falsch. Die idealste Vorbereitung auf einen Aufenthalt in einer anderskulturellen Umgebung bleibt, wie im Kleinkindalter, die einfache, unvoreingenommene Beobachtung. Die beste Grundlage, um Asien kennenzulernen, wäre ein durch unsere Erfahrung und unser Urteil unbeschwerter Blick. Ein Baby kann einen Punkt während dreissig oder vierzig Sekunden anstarren und aufnehmen. Hier findet eine Prägung statt, die noch von keinem Urteil belastet ist. Dies wäre auch der ideale Zugang zu einer anderen Kultur, nur wahrnehmen und zusehen. Vorurteilsfreies, emotional nicht engagiertes Beobachten aus alleinigem Interesse bildet die ideale Voraussetzung für eine Sozialisation in einer Gastgesellschaft. Vieles am Verhalten der Personen aus der Gastgesellschaft wird uns dann zwar nicht auf Anhieb klar werden, aber wir stellen Unterschiede fest. Und nach einer gewissen Zeit würden dann Fragen gestellt. Nicht an andere Ausländer, sondern an Einheimische, warum sie denn dies und dies so und so machen würden und nicht so wir wir dies tun. Da viele unserer täglichen Verhaltensweisen automatisiert sind, darf man keine klaren Antworten auf diese Frage erwarten. Man muss sich im Gegenteil mit einigen Personen unterhalten und bekommt dann immer etwas anders gelagerte Antworten. Mit der Zeit entsteht aus diesen Antworten ein Bild wie aus einem Puzzle, wir beginnen, die andere Gesellschaft aus sich selbst heraus zu verstehen und nicht mehr auf dem Hintergrund von Erfahrungen und Wertmustern unserer eigenen Gesellschaft. Wir bauen einen neuen Erfahrungshintergrund auf, der von unserem bisherigen Wissen relativ unabhängig entsteht.
    Voraussetzung für diese Entwicklung zum Verstehen einer anderen Gesellschaft ist Empathie und Interesse an ihr. Viele Japaner oder Chinesen behaupten, ein Europäer könne sie nicht verstehen. Dies ist falsch. Einen Japaner oder einen Chinesen zu verstehen ist für uns Europäer nicht schwieriger – aber auch nicht einfacher –, als einen unserer eigenen Nachbarn zu begreifen. Wenn das Interesse nicht da ist, kann auch er uns während Jahren oder Jahrzehnten ein Fremder bleiben. Wichtig wird hier auch die Haltung zur chinesischen Sprache. Das Interesse am anderen kulturellen Umfeld zeigt sich darin, dass man zumindest versucht, etwas Chinesisch zu lernen. Einige Worte auf Chinesisch zu sagen, kann die Atmosphäre völlig verändern – allerdings nur, wenn ein wirkliches Interesse spürbar wird. Lernt man ein paar Worte nur um Eindruck zu schinden und Interesse vorzugeben, das gar nicht wirklich existiert, dann findet dies eine chinesische Person schnell heraus. Gerade wenn man deshalb in China wohnt oder das Land regelmässig besucht, sollte man etwas Chinesisch sprechen. Die Erwartungen müssen dabei der Realität angepasst sein. Chinesisch ist für einen westlichen Menschen schwieriger zu erlernen, als eine unserer Sprachen. Zu hohe Erwartungen führen deshalb fast unausweichlich zu Enttäuschungen.
    Eine zweite Voraussetzung bei diesem Prozess des Verstehens ist eine gute Portion Selbstkritik und Kritik an unserer eigenen Gesellschaft. Dies schafft die nötige Offenheit, um auch andere Handlungs- und Denkweisen anzunehmen, ohne sie sofort als schlecht in Frage zu stellen. Dies tönt einfacher, als es in Wirklichkeit ist, denn wir sollten ja andererseits immer überzeugt sein von dem, was wir tun, wenn wir Erfolg haben wollen. Das gleichzeitige Infragestellen ist deshalb kein automatisches Verhalten. Fragestellungen an die eigene Person und Gesellschaft müssen bewusst provoziert oder gesteuert werden.
    Es kommt dazu, dass in dieser Kritik an sich und an der eigenen Gesellschaft auch einer der Hauptgründe für den Kulturschock bei Rückkehr in die eigene Gesellschaft liegt. Über unsere selbstkritische Haltung wird die andere Gesellschaft verständlich. Wir beginnen damit aber auch unsere eigene
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