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Leitfaden China

Leitfaden China

Titel: Leitfaden China
Autoren: Hans Jakob Roth
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europäischen Familie ist wesentlich rücksichtsvoller und sehr viel höflicher als in einer chinesischen, was chinesische Beobachter sogar dazu geführt hat, zu sagen, der Westen lege doch mehr Wert auf die Familie als der Osten. Doch der Schein trügt und zeigt einmal mehr, dass Erklärungen nicht auf der phänomenologischen Ebene zu suchen sind, sondern auf einem breiteren Hintergrund gesehen werden müssen. Der familiäre Zusammenhalt in China ist auch heute noch dermassen hoch, dass die Einhaltung der Formen in der Familie (fast) keine Rolle spielt. Hier lebt eine Schicksalsgemeinschaft zusammen, deren Mitglieder neben dem materiellphysischen Schutz auch einen psychischen Schutz gegen die erdrückende soziale Ergebung erfahren. Nur in der Familie ist man sicher. Deshalb hat die traditionelle chinesische Architektur, beispielsweise im Hofhaus in Beijing oder in den Stadthäusern südlich des Yangzi, den Wohnsitz der Familie mit hohen Mauern umgeben. Nur ein Tor führte in den ersten Hof. Der Blick in diesen wurde sehr oft noch durch eine «Geistermauer» verwehrt. Mit Freud interpretiert wären die Geister wohl mit den Nachbarn gleichzusetzen, denen der neugierige Blick in den eigenen Hof verwehrt werden sollte.

    Bild: Chinesisches Hofhaus
    In die Familie wird deshalb in der Regel auch heute nur eingeladen, wer eigentlich dazu gehört. Das sind über die Familie hinausgehend nur die besten Freunde, mit denen man aufgewachsen ist, oder Geschäftspartner, die man schon jahrelang kennt und mit denen man Glück und Unglück teilt.
    Lern- und Arbeitsumfeld, Freunde und Kunden
    Der nächste Kreis wird durch den täglichen Aufenthalt ausserhalb der Familie bestimmt, sei dies das Arbeitsumfeld, die Schul-oder Lehranstalt oder auch die regelmässige Pflege der Geschäftsbeziehungen mit Kunden oder Lieferanten, die man seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten kennt. Diese Beziehungsnetze sind in der chinesischen Gesellschaft ausgesprochen wichtig. Ihr Stellenwert dürfte darauf zurückgehen, dass China eine Agrargesellschaft war, die von einer matriarchalen zu einer patriarchalen Struktur gewechselt hat (Min, 1995). Die Sesshaftigkeit der landwirtschaftlichen Gesellschaft führte zu relativ beschränkten Beziehungsmustern, die in sich aber sehr wichtig blieben. Die Autarkie dieser Agrargesellschaft brachte es mit sich, dass man sich auf ein enges Beziehungsnetz abstützte, das in der Not Hilfe bot. Die Blutbande wie auch der Einschluss von engen Freunden in diese enge Gruppensicht waren an die Scholle gebunden, doch sind sie bis in die Moderne erhalten geblieben (siehe dazu z. B. den Klassiker von Fei Xiatong «From the Soil», 1992, dessen chinesisches Original 1947 in Shanghai erschienen ist, oder Li Hanlin, 1991).
    In dieser sozial wichtigen Umgebung kann sich ein Asiate nicht erlauben, so locker wie in der Familie zu sein. Hier wird im Gegenteil von der Umgebung sehr hohe Aufmerksamkeit gefordert, hier ist der Ort, an dem die Antennen funktionieren müssen, um der Person anzuzeigen, wie sie in dieser Umgebung «ankommt». Während soziale Integration in der Familie geübt wurde, wird sie hier lebens- und überlebenswichtig. In dieser Umgebung unterwirft sich die Person der Gruppe, in dieser Umgebung dominieren Harmonie und Konsens, auch wenn sie im Herzen überhaupt nicht vorhanden sind. Die gesellschaftliche Rationalität verlangt ein Eingehen auf das Kollektiv, von dem letztlich das Überleben jeder einzelnen Person abhängt. Hier liegt auch der Grund für die grosse Höflichkeit, die man einem Gast gegenüber aufbringt oder mit der man Kunden bedient. In einer langjährigen Geschäftsbeziehung bilden diese Zuvorkommenheit und die damit verbundenenen Verpflichtungsmuster die ethische Basis, auf welcher die Geschäfte abgewickelt werden. Gegen sie zu verstossen heisst, sich in ein Minenfeld zu begeben, dessen Grenzen nicht abschätzbar sind. Unzuverlässigkeit führt nicht nur dazu, dass die Geschäftsbeziehung unhaltbar wird. Der betroffene Geschäftspartner wird die Unzuverlässigkeit nicht für sich behalten, sondern wird sie in seinem ganzen Netzwerk publik machen. Da diese Netzwerke stark branchengestützt sind, wird es in einem solchen Fall für den unzuverlässigen Geschäftspartner sehr schwierig, andere Lieferanten oder Kunden zu finden, denn sein Fehlverhalten wird schnell bekannt.
    Die gegenseitigen Bindungen sind auch deshalb im Geschäftsleben ausgesprochen wichtig, weil Ethik nur in der gemeinsamen Beziehung
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