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Leichte Turbulenzen - Roman

Leichte Turbulenzen - Roman

Titel: Leichte Turbulenzen - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
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Ivy war, hätte sie wissen müssen, dass ihre kleine Schwester niemals kochte. »Ivy, ich sage dir, auch du wirst wieder glücklich!« Manchmal schickte Nathalie ihr sogar Ratgeber für mutlose Singles, die solch vielversprechende Titel trugen wie: Wege und Umwege zum Glück oder Wo, bitte, geht’s zum richtigen Leben? Die Teile verbrannte Ivy augenblicklich in ihrem Waschbecken im Badezimmer. Einmal war dabei versehentlich das Händehandtuch in Flammen aufgegangen und der Duschvorhang geschmolzen. Wäre das Haus gleich mit abgebrannt, es hätte Ivy nicht gewundert.
    Sie trat ja auch in Kaugummis.
    Jetzt im marokkanischen Kochbuch zu blättern würde diesem Mann neben ihr den absolut falschen Eindruck vermitteln, nämlich, dass sie sich für ein gemütliches Leben mit Kochrezepten interessierte. Zu Hause würde Ivy das Buch direkt aufs Bücherregal legen und die nächsten zehn Jahre nicht wieder herunterholen oder an ihre Nachbarin Eve verschenken, die mit Frank und ihren beiden Kindern unter ihr wohnte. Eve liebte Rucksackreisen ins Ausland.
    Früher hatte Ivy ein paar Male für Javis gekocht, der jedes Mal allergisch darauf reagiert hatte. Er war nämlich davon überzeugt gewesen, dass sie ihn auf diese Weise zu einem sozial agierenden Menschen mit Anstand und Familiensinn hatte umkrempeln wollen. Es war gar keine Freude gewesen, ihm auch nur ein Ei zu kochen. Javis hatte wirklich alles in Ivy verwüstet. Einmal hatte er sogar eine Zigarettenkippe im Kartoffelpüree ausgedrückt. Und Ivy hatte gedacht, mit so jemand Kaputtem käme sie klar, beziehungsweise – was noch viel erbärmlicher war – sie hatte geglaubt, sie könne Javis’ kindliche, reine Seele retten, sein egozentrisches Wesen austreiben und ihn bis in alle Ewigkeit von sich abhängig machen. Ivy hatte tatsächlich gedacht, sie würde etwas schaffen, woran bereits eine ganze Mädchenriege vor ihr gescheitert war: Javis gefügig zu machen. Sie hatte geglaubt, als Kunststudentin bräuchte man einen Exzentriker als Freund. Sie hatte wirklich gedacht, dass in dieser hohlen Nuss ein Geheimnis verborgen lag, das strahlender war als alles, was die Welt bisher geschaut hatte.
    Oder aber Ivy holte den schmalen Bildband über Vincent van Gogh aus ihrer Tasche, den ihr die Verwaltung von Madame Tussauds am Freitag, kurz vor ihrem Abflug, über die Hauspost hatte zukommen lassen. Vermutlich würde der Mann auf dem Fensterplatz sie dann für eine Kunsthistorikerin halten, so wie sie ihn aufgrund der Noten für einen feinsinnigen Pianisten hielt. Eingehend betrachtete sie seine Hände mit den kurz geschnittenen Fingernägeln. Eindeutig Pianistenhände! Dummerweise hatte Javis auch Pianistenhände gehabt. Ohne seine Pianistenhände hätte Javis einpacken können. Im Grunde genommen waren die sein einziges Kapital gewesen. Die hatten ihm etwas Verletzliches und Tugendsames verliehen. Dieser Mann hier war nichts für sie! Seine Hände erinnerten Ivy zu sehr an Javis. Schade, dass man Hände nicht einfach umformen konnte, so wie bei Wachsfiguren. Am besten, sie modellierte sich selber einen Mann. Mit passenden Händen, bei dem war dann wenigstens von vornherein klar, dass er komplett hohl war.
    Ivy schnallte sich ab, holte den Bildband über van Goghs Meisterwerke aus der Reisetasche und setzte sich damit wieder hin.
    Sie blätterte darin herum, ohne überhaupt mitzukriegen, was sie da sah. Eigentlich blickte sie direkt nach innen. Bloß nicht auf die Hände des Mannes neben ihr! Mit jedem flüchtigen Blick nach links erwachten immer mehr von Ivy mühsam verplombten Erinnerungen an damals. Mit Macht zwang sie sich, die Bildunterschriften zu lesen, um vor dem Mann so zu tun, als sei sie sehr beschäftigt. »Kornfeld unter einem Gewitterhimmel«, »Quitten, Zitronen, Birnen und Trauben«, »Kornfeld mit Rebhuhn«. Schließlich, nachdem sie den Band einmal durchgeblättert hatte, hielt sie es nicht mehr aus, klappte das Buch zu und fragte, mit Blick auf die Noten: »Sind Sie Musiker?«
    Warum sollte er nicht die gleichen Hände wie Javis haben? Immerhin hatte er nicht das gleiche Gesicht. Das musste man diesem Mann zugute halten.
    Augenblicklich sah der Mann auf. »Na ja, also, ich komponiere hin und wieder fürs Fernsehen.«
    Er machte eine Pause, offenbar um zu sehen, wie Ivy reagierte, aber die reagierte gar nicht. Dafür arbeitete es gewaltig in ihrem Kopf. Wenn dieser Mann komponierte, konnte er nicht ganz dumm sein, oder? Zum Komponieren brauchte man mit Sicherheit
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