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Leichentücher: Psychothriller (German Edition)

Leichentücher: Psychothriller (German Edition)

Titel: Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Autoren: Marko Hautala
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    »Schauen willst du …«
    Aulis’ Daumen drückten auf Mikaels Adamsapfel. In seinem Gesicht lag kein Hass, nur eine kindlich beleidigte Miene. SeineBacken zitterten vor Anstregung. Mikael war zunächst noch wie abwesend. Die Todesangst packte ihn erst, als er versuchte, sich die Hände vom Hals zu reißen. Sie waren wie steinerne Klauen, unverrückbar wie Beton.
    Lautlose Panik. Das Gefühl, langsam in einem Vakuum zu schweben, in einem Raumanzug auf die Sonne zuzufliegen.
    »Schauen wollten die auch …«
    Aulis’ Gemurmel drang von weit her. Mikael hatte am Morgen ein Glas Orangensaft getrunken, jetzt erinnerte er sich an die Farbe. Gleich danach hatte er sich die Zähne geputzt, obwohl man das nach Orangensaft nicht tun durfte, um dem Zahnschmelz nicht zu schaden. Dann war er im morgendlichen Stoßverkehr zur Klinik gefahren, im Radio hatte jemand über die Funktionsweise eines Echolots gesprochen, und er hatte befürchtet, zu spät zur Morgenbesprechung zu kommen. Die Nachtpfleger wurden immer wütend, wenn ihre Kollegen von der Frühschicht zu spät kamen und sie deshalb länger bleiben mussten. Mikael hatte im Umkleideraum im Keller seinen weißen Kittel angezogen und war in langen Sätzen die Treppe hinaufgelaufen. Dabei war ihm in den Sinn gekommen, dass er damals mit achtzehn das grünäugige Mädchen hätte vögeln sollen, Seitensprung hin oder her. Seine damalige Freundin hatte ihm bereits ein Jahr später keinen Furz mehr bedeutet. Auf der Station hatten die Pfleger vom Nachtdienst auf den Stühlen gehangen wie Marionetten.
    Mal schauen, zum Teufel …
    Mikael verspürte einen Moment lang eine verstörende Ungewissheit: Wurde er erwürgt oder würgte er selbst jemanden? Unter dem Eindruck dieses Gefühls verbanden sich die Bilder von einem flatternden Vogel, dem grünäugigen Mädchen und der immer größer werdenden Sonne. Ein Mann, der auf dem Linoleumboden der Stationsküche lag, ein Mann, den er würgte, obwohl er selbst keine Luft mehr bekam.
    Mikael begriff erst, dass er mit der linken Hand über denKüchenboden tastete, als ihm der scharfkantige Splitter eines zerbrochenen Plastiktellers in die Hand schnitt. Er griff danach wie nach einem Strohhalm, der ihn hinderte, wegzudriften. Der Schmerz in den Fingerspitzen brachte ihn in die Realität zurück. Auf der Station durften keine spitzen Gegenstände herumliegen. Etwas stimmte nicht, etwas befand sich am falschen Ort, so wie der Luftballon unter der Kirchendecke, den er als Kind gesehen hatte. Er hatte ihn während des ganzen Gottesdienstes betrachtet. Mikael umklammerte den Plastiksplitter, wünschte sich, dass der Schmerz heftiger würde.
    Dann schlug er zu. Der erste Schlag war ziellos, schnitt lediglich durch die Luft. Mit dem zweiten Schlag traf er den Körper seines Angreifers. Mikael schlug erneut zu, immer wieder, bis er ein paar hastige Atemzüge machen konnte, gerade so, als wäre er aus dem Wasser aufgetaucht, nur um gleich wieder darin zu versinken. Er schlug zielstrebiger, bis die steinernen Klauen sich in Haut und Knochen verwandelten. Der Druck an seinem Hals verschwand.
    Aulis’ stinkender Atem blieb. In Mikaels Lunge fühlte er sich himmlisch an. Das grünäugige Mädchen küsste ihn, es war Sommer und so warm, dass die Luft dünnem Rauch glich. Die Sonne im Weltall begann, sich wieder zu entfernen.
    Mikael hob den Kopf und sah wie durch einen Nebel, dass Aulis sich aufgesetzt hatte und in Richtung Wand robbte, als hätte er kein Gefühl mehr in den Beinen. Mit einer Hand rieb er sich das Gesicht. Man konnte es doch nicht wegwischen, das begriff sogar ein Kind.
    Mikael stand auf und machte drei schnelle Schritte zur Seite. Er betrachtete seinen Patienten, der wie ein Affe in der Ecke kauerte und zitterte. Auf Station war Pias glockenhelles Lachen zu hören. Die Schicht war bald vorbei, und die Routinearbeiten waren fast erledigt, da lachte es sich leicht.
    Der Plastiksplitter lag fest in Mikaels Hand. Überall auf dem Fußboden waren Bluttropfen zu sehen. Sie schienen zu vibrierenund ständig ihre Form zu verändern. Mikael bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten. Rorschach-Tests fielen ihm ein. In den Flecken ließen sich Gespenster aus der Kindheit oder Menschen mit pockennarbiger Haut wahrnehmen. Müdigkeit unterstützte derlei Fantasien.
    Mikael schlitterte eher auf den in der Ecke kauernden Affen zu, als dass er ging, als wäre der Fußboden abschüssig. Seine Hand hob sich wie von selbst.
    Das Merkwürdigste war,
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