Leichentuch: Band 2 der Blutdrachen Trilogie (German Edition)
durch das wuchernde Kraut frei. Immerhin war es im Inneren des Turms trocken.
Er sah sich in dem schmucklosen Innenraum um und fand ihn leer und verlassen, wie er gedacht hatte. Eine Holztreppe führte nach oben, aber sie war wenig vertrauenerweckend und er nahm Abstand davon, sich im oben gelegenen Teil des Turms umzusehen. Das Holz war morsch, aber trocken genug, um ihm als Brennholz zu dienen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ein kleines Feuer entzündet war und ihm zum ersten Mal seit Tagen Wärme spendete. Halef Omar legte seine Kleidung ab und breitete sie rund um das kleine Feuer aus. Es würde lange dauern, bis sie wieder trocken waren. Als er sich hinhockte, die Hände zum Feuer ausgestreckt, bemerkte er den nagenden Hunger, der in seinem Leib wühlte. Seine mageren Vorräte hatte er schon vor ein paar Tagen aufgebraucht und seitdem nur Wasser zu sich genommen.
Es war schon seltsam! Dort, wo er herkam, war Wasser das kostbarste Gut. Hier war es allgegenwärtig und im Überfluss vorhanden! Was hätte er jetzt für ein Stück Brot gegeben! Halef gähnte. Jetzt, da er ein wenig Ruhe und Sicherheit gefunden hatte, schlich sich die Müdigkeit wie ein stiller Feind an ihn heran. Er hatte sich immer nur ein paar Stunden Schlaf gegönnt und sich, sobald er wieder erwacht war, auf seinen Rückweg konzentriert. Fast fielen ihm die Augen zu.
Draußen begann die Dämmerung und bald würde ein neuer, nasser Tag anbrechen. Halef Omar erhob sich und begann in dem Raum umherzugehen, der ihm Herberge gab. Die Wände waren aus groben Steinen gesetzt, nur eben so behauen, dass sie ineinander griffen und mit wenig Mörtel ein festes Fundament bildeten. Der Boden war aus steinernen Platten gebaut. Bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass sie schon einem anderen Zweck gedient haben mussten, bevor sie in diesem schlichten Wachturm verbaut worden waren. Auf einigen zeigte sich ihm ein Muster, das einmal zu einem Relief oder Wandbild gehört haben mochten.
Er nahm einen Zweig auf, der vom Wind hereingeweht worden sein musste und benutzte ihn als Besen. Da waren Schriftzeichen auf den Bodenfliesen! Halef Omar war des Schreibens und Lesens kundig und erstaunt stellte er fest, dass es sich nicht um die lateinische Schrift der Christen handelte, sondern um arabische Schriftzeichen. Deutlich hoben sie sich im schräg einfallenden Licht des Feuers ab. Halef Omars Neugier war geweckt. Um sich wachzuhalten, begann er die Zeichen zu entziffern. Vielleicht ergaben sie ja einen Sinn! In jedem Fall beschäftigten sie ihn und hinderten ihn daran, in Schlaf zu fallen. Je länger Halef suchte, desto mehr Textfragmente fand er.
Es war schwer, darin einen Sinn zu finden, auch wenn er sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass die Texte zusammenhingen. Halef suchte seinen Dolch aus den trocknenden Sachen und begann damit, sich Notizen zu machen, indem er die Zusammenhänge in den weichen Sandstein der leeren Bodenplatten ritzte. Nach und nach ergaben die Teile, die er entziffern konnte, einen Sinn, einen, der Halef erstaunte und erschreckte. Er kannte aus seiner Heimat die alten Legenden und Märchen, die die alten Männer abends an den Lagerfeuern erzählt hatten. Wenn diese alten Schriftzeichen die Wahrheit sprachen, dann waren diese alten Sagen keine Märchen, sondern die verstümmelten Überlieferungen uralter Wahrheiten.
Erschreckender und beängstigender Wahrheiten! Er kannte auch die mystischen Wahrheiten der Kabbala und je mehr er von den Zeichen erfuhr, desto deutlicher trat ihm ein Bild vor Augen, von satanischen Wesen, die die Wüsten der Arabischen Halbinsel ebenso heimgesucht zu haben schienen wie das nasse Land der Christenhunde. Halef Omar erinnerte sich gut, wie er als Knabe in den Weiten der Wüste mit seinen Freunden ein grünliches, geheimnisvoll glänzendes Glas gefunden hatte, das die Dünen nach Sandstürmen immer wieder freigaben. Von diesem erzählten die Texte, die er entzifferte und sie sagten, dass es der geschmolzene Sand war, geschmolzen vom verzehrenden Feuer von Wesen, die die Christen Drachen nannten.
Jeder Anflug von Müdigkeit war aus Halefs Geist verschwunden. Es dämmerte zum Abend, als er endlich alle Fragmente zusammengefügt hatte. Sie erzählten eine unglaubliche, fantastische Geschichte, aber, beim Barte des Propheten, Halef Omar zweifelte keinen Augenblick an deren Wahrheitsgehalt. Wie gern hätte er seine Notizen mitgenommen! Aber er hatte kein Papier, kein Schreibgerät, keine Tinte, um sie
Weitere Kostenlose Bücher