Lehtolainen, Leena
dass ich doch um Himmels willen nicht imstande bin zu arbeiten, wenn ich mich so elend fühle. Ich bin jetzt Vollwaise, habe niemanden mehr auf der ganzen weiten Welt. Ich fühle mich wie ein verirrtes Kind im kalten Winter. Bitte, Frau Doktor, schreiben Sie mich noch eine Woche krank. Ich brauche keine Überweisung zur Therapie, da gehe ich sowieso schon hin!
Endlich gab die dumme Kuh nach und verlängerte mein Attest um eine Woche. Eine typische Vertreterin der Schulmedizin, eine verbiesterte Medizinalbeamtin, die von der menschlichen Seele nichts versteht. Im Wartezimmer saßen zwei Mädchen, die laut lachten, als ich an ihnen vorbeiging. Am liebsten hätte ich sie angeschrien: Meine Mutter ist gestorben!
Johanna habe ich erst angerufen, als ich wieder zu Hause war.
Sie sagte, im Laden herrsche Hochbetrieb, weil die Herbstdiät-saison angefangen hat, aber ich ließ ihre Klagen an mir abperlen. Wie kann sie mir vorwerfen, dass ich trauere? Zum Glück sollte sich am Abend meine Healing-Gruppe treffen. Ich suche schon seit langem nach einem Heilkundigen, der diesen zerbrochenen Krug zusammenfügt, und jetzt habe ich das Gefühl, ihn endlich gefunden zu haben. Healing wirkt tatsächlich!
Ich zündete ein Räucherstäbchen an und betete vor dem Bild der Jungfrau Maria, das ich von meinem letzten Geld in einem griechischen Nonnenkloster gekauft habe, auf meiner Interrail-tour. Damals hatte ich mich tief in den orthodoxen Glauben versenkt und wusste, Gott wird mich nach Finnland zurückführen, obwohl ich keinen Pfennig mehr in der Tasche hatte, nur noch meinen Interrailpass. Und so geschah es auch. Ich lernte ein freundliches finnisches Ehepaar kennen, das sein Essen mit mir teilte. Auch die beiden waren Christen, allerdings Luthera-ner.
Bald nach dieser Reise erkannte ich, wie patriarchalisch die orthodoxe Kirche ist. Für meine weibliche Kraft war sie nicht das Richtige. Das Bild der Jungfrau Maria habe ich trotzdem nicht von der Wand genommen, weil ich so gern erzähle, woher ich es habe. Ich bin ein religiöser Mensch.
Der Schmerz hat meine Kreativität nicht versiegen lassen. Ich habe zwei Gedichte für Mutter geschrieben. An manchen Tagen entstehen viele Gedichte, sie tauchen wie von selbst auf, von einer göttlichen Kraft eingegeben. Dafür bin ich dankbar. Das eine meiner neuen Gedichte hätte ich auf der Beerdigung deklamieren können, schade, dass es zu spät erschienen ist.
Vielleicht werde ich hier auf den Friedhof gehen, zum Denkmal der andernorts zur Ruhe gebetteten Toten, und dort mein Gedicht aufsagen. Mutter wird es hören. Sie kommt in den Himmel, das weiß ich genau. Mutter war eine Heilige: Sie hat vier Kinder und einen Säufer ernährt. Mir hat sie heimlich Schokolade gekauft, denn ich war als Kind zu mager, weil die anderen mir alles wegaßen. Wenn die Anthroposophen recht haben, kehrt sie als glückliches, erleuchtetes Wesen auf die Erde zurück. Ich werde sie bestimmt erkennen, denn das Band zwischen Mutter und Tochter kann niemand zerschneiden.
Sirkka bemüht sich, so zu sein wie Mutter, aber mich täuscht ihr sanftmütiger Blick nicht. Sie ist kalt und hart, sie stößt alle netten, warmherzigen Menschen ab, zum Beispiel Eero und Mauri. Kaitsu ist von der gleichen Art wie Sirkka, Vati und Rane. Alle vier haben Widder und Skorpion im Horoskop, finstere, zerstörerische Planeten. Ich bin dreifacher Krebs.
Vielleicht will ich deshalb nicht zur Arbeit gehen, weil die Atmosphäre dort nicht heilsam ist. Die Trauer hat mich aufge-rieben. Ich hatte erwartet, dass in einem Reformhaus eine spirituelle Stimmung herrscht, aber die anderen Verkäuferinnen sind unfreundlich wie in der Apotheke und herausgeputzt wie Kosmetikerinnen. Wenn ich mit den Kunden tiefschürfende Gespräche führe, bekomme ich einen Rüffel. Dabei will ich doch nur helfen! Ist es nicht gut für die Kunden, wenn ich ihnen erzähle, welche Wirkung ein Produkt auf mich gehabt hat? Wir müssen Verantwortung übernehmen dürfen und nicht nur abkassieren. Die anderen sind einfach neidisch, weil ich Stammkunden habe, die nur von mir bedient werden wollen. Ich muss mir überlegen, ob ich dort noch arbeiten will. Immerhin bin ich schon seit fünf Monaten da.
Kundenberatung ist meine Stärke. Und das Heilen. Leider ist mein Abitur wegen Ranes Selbstmord so schlecht ausgefallen, sonst hätte ich Medizin oder Psychologie studiert. Ich habe viele Enttäuschungen erlebt und jahrelang nach meinem Platz im Leben gesucht. Sirkka hat mir
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