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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena
Autoren: Weiss wie die Unschuld
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schlotterte.
    Hatte sie im Gefängnis gesessen, sah sie deshalb so verhärmt aus?
    Wieder unterbrach Elinas ruhige Stimme die Stille:
    »Es handelt sich hier um eine kleine Begriffsverwirrung. Ich nehme an, keine der hier Anwesenden hält Abtreibung für Mord, umso weniger, als vermutlich weder Johanna noch das Kind die Geburt überlebt hätten. Johanna hat neun Kinder zur Welt gebracht und wäre schon bei der letzten Entbindung fast gestorben.«
    »Hätten die Ärzte dich denn nicht sterilisieren können? Oder dir eine Spirale einsetzen?«, rief die Frau, die Milla vorgeworfen hatte, sich mit der Opferrolle abzufinden.
    »Unsere Gemeinde billigt das nicht. Empfängnisverhütung ist gegen Gottes Willen.« Johanna leierte die Phrase ausdruckslos herunter.
    »Bist du katholisch?«, hakte die andere Frau nach.
    »Johanna gehört einer der orthodoxesten altlaestadianischen Gemeinden an«, nahm ihr Elina die Antwort ab.
    »Hat sie einen Rechtsanwalt?« Ich richtete meine Frage an Elina, obwohl es mich irritierte, dass wir über Johannas Kopf hinwegredeten, als wäre sie geistig minderbemittelt. Elina gab mir keine Antwort, sondern sagte mit fester Stimme:
    »Wenn niemand mehr Fragen an Kriminalhauptmeisterin Kallio hat, ist es wohl an der Zeit, ihr zu danken und die Diskussion zu beenden.« Sie begann zu applaudieren, und die verdutzten Frauen taten es ihr nach. Während sie den Saal verließen, wandte sich Elina an mich.
    »Wir erledigen dann gleich die Honorarfrage. Aber es wäre schön, wenn du vorher noch Zeit hättest, mit Johanna zu sprechen.«
    Natürlich hatte ich dafür Zeit. Ich war geradezu versessen darauf, Johannas Geschichte zu hören. Während Elina die Tür zumachte, trat Johanna an meinen Tisch. Zum ersten Mal sah sie mir ins Gesicht. Die Beklemmung, die ich aus ihren grauen Augen las, war so stark, dass es mir schwer fiel, ihrem Blick standzuhalten.
    »Wie alt sind deine Kinder?«, fragte ich, weil mir nichts Gescheiteres einfiel. Ich fühlte mich der Situation nicht gewachsen. Wie hätte ich die Sehnsucht einer Mutter nach ihren Kindern nachempfinden können, wo ich mir kaum einzugestehen wagte, dass ich vielleicht doch Kinder haben wollte – aber frühestens in ein paar Jahren.
    »Johannes, mein Ältester, ist vierzehn, und Maria, die Jüngste, ist anderthalb.« Ihre Stimme gewann Festigkeit, als sie von ihren Kindern sprach, mit diesem Thema war sie vertraut.
    »Maria … meine Namensschwester. Und der zweite Name meines Mannes ist Johannes«, sagte ich mit verzweifelter Munterkeit, als könnte das Johannas Schmerz lindern. »Warum will dein Mann verhindern, dass du deine Kinder besuchst? Nur wegen der Abtreibung? Oder weil du ihn verlassen hast?«
    »Das Wort des Mannes ist bei uns Gesetz, und Kinder sind eine Gnade Gottes.« In ihrer Stimme lag kein Hohn. »Wenn ich bei der Niederkunft sterbe, ist es Gottes Wille.«

    »Aber du hast ja schon neun Kinder, was ist das für ein Gott, der so etwas will!« Meine Berufsethik ließ mich im Stich, ich war außer mir vor Wut. Johanna wandte das Gesicht ab, und Elina trat rasch zu ihr, wie um sie zu schützen. Ich schämte mich. Würde ich denn nie lernen, mich zu beherrschen?
    »Entschuldige bitte, wir wollen uns nicht über deinen Glauben streiten. Reden wir lieber über praktische Fragen. Verhindert dein Mann ganz konkret, dass du deine Kinder zu Gesicht bekommst?«
    »Johanna lebt in einer kleinen nordostbottnischen Gemeinde, wo siebzig Prozent der Einwohner Laestadianer sind, einschließ-
    lich des Arztes und aller Polizisten, bis auf einen«, erklärte Elina. Dann erzählte sie, dass die Kinder nicht mit der Mutter telefonieren durften und dass der Vater Johannas Briefe zuerst abgefangen und später dem Briefträger verboten hatte, sie zuzustellen. Als Johanna versuchte, ihre Kinder zu besuchen, hatte ihr Mann die Polizei gerufen, die sie kurzerhand aus der Ortschaft auswies. Obwohl ich gleich mehrmals bis zehn zählte, verspürte ich den Drang, gegen irgendetwas zu treten. Was für eine haarsträubende Geschichte! War so etwas im Finnland der neunziger Jahre überhaupt möglich? Laestadianer und Zeugen Jehovas hatte es in meiner Heimatstadt auch gegeben. Ihre Kinder durften in der Schule nicht an der Musikgymnastik teilnehmen, noch nicht einmal im Takt des Tamburins im Kreis gehen, und das Schulfernsehen war für sie auch verboten, aber sonst unterschieden sie sich kaum von anderen. Sicher, diese Leute hatten Unmengen von Kindern, doch ich hatte nie
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