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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian
Autoren: Genau mein Beutelschema
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Ghetto-Neuköllns. Inzwischen ist aus der Schule ein ansehnlicher, frisch renovierte Bau geworden, vor dem seltsamerweise zwei riesige grüne Froschskulpturen stehen.
    Nach einer weiteren halben Stunde finde ich endlich den Hermannplatz und erwische gerade noch die letzte U-Bahn. Als ich mich auf einen freien Sitz fallen lasse, fällt mir auf, dass etwas auf meinem Stoffbeutel steht. Ich drehe ihn um und lese die krakelige Edding-Schrift: »Freitag, Reuterstraße 84, Galerieeröffnung. Wir warten auf dich.«

3
How Much Is the FISH?
    Ich wache Sonntagmittag auf, nachdem ich wegen der ganzen Club Mate, die ich gestern getrunken habe, erst am Morgen eingeschlafen bin. Ich kann die Sonne hinter meinen dicken Vorhängen erahnen und dass heute ein ziemlich schöner Tag ist.
    Sofort denke ich an Christina Aguilera. Und ich habe noch nie nach dem Aufwachen an Christina Aguilera gedacht. Zumindest seit zehn Jahren nicht mehr. Ich blicke zu meinem Stoffbeutel, der an der Zimmertür hängt. Noch bis Freitag muss ich warten, bis ich sie wiedersehe. Falls ich Dr. Alban trauen kann. Aber mir bleibt ohnehin nichts anderes übrig.
    Ich schäle mich aus der Bettdecke, schlurfe langsam in die Küche und koche mir einen Kaffee. Die alte Frau aus dem Hinterhaus fegt in Slow Motion den Hinterhof, obwohl gar keine Blätter auf dem Boden liegen. Mein schönes Tiergarten scheint mehr als nur ein paar U-Bahn-Stationen von Neukölln entfernt zu sein.
    Eigentlich ging das gestern doch besser als gedacht, immerhin habe ich, wenn schon nicht sie selbst, Christinas Mitbewohner gefunden. Und eine Woche werde ich bestimmtirgendwie rumkriegen, ich habe ja schon genug Wochen in meinem Leben irgendwie rumgekriegt.
    Mir fällt ein, dass ich heute mit meinem besten Freund auf dem Mauerpark-Flohmarkt im Prenzlauer Berg verabredet bin. Babyklamotten kaufen. Er ist nämlich schwanger. Das sagt er immer und lacht dann. Ich lache nicht. In mir blitzen nur verstörende Bilder von diesem unsäglichen Film mit Arnold Schwarzenegger und Danny DeVito auf, in dem sie wirklich schwanger sind. Also, Schwarzenegger, was weiß ich, ich habe den Film seit fünfzehn Jahren nicht gesehen. Aber wahrscheinlich ist der auch bald wieder hip, und Leute wie dieser Dr. Alban finden das dann postironisch.
    Eine halbe Stunde später sitze ich in der U-Bahn Richtung Prenzlauer Berg. Warum muss eigentlich ausgerechnet ich mit zum Babysachenkaufen? Ich kenne wenige Menschen, die weniger Ahnung von Babybekleidung haben als ich. Überhaupt von Babys und Kindern im Allgemeinen. Wahrscheinlich müsste ich Babys auch langsam süß und niedlich finden. Du kommst ja jetzt auch so langsam in das Alter. Wie oft musste ich diesen Spruch in letzter Zeit hören? Selbst von Leuten, bei denen ich das gar nicht erwartet hätte, radikalen Anarchisten oder Party-Hedonisten mit starken Drogenproblemen zum Beispiel.
    Ich steige an der Eberswalder Straße aus und schlendere inmitten von Touristen- und Familienhorden, die das gleiche Ziel haben wie ich, Richtung Mauerpark. Am Eingang zum Flohmarkt steht ein Gitarrenspieler mit Rastalocken und singt voller Inbrunst »Smells like Teen Spirit« von Nirvana. Das tut er dort jeden Sonntag. Wahrscheinlich seit 1992. Ein Lied, das ich nur noch unter Schmerzen ertragen kann.
    Wie der Sänger von Nirvana ist mein schwangerer Freund übrigens auch immer schlechtgelaunt, schön selbstmitleidig und ziemlich verzweifelt über die ach so schreckliche Welt. Ich sollte ihn nur noch Kurt Cobain nennen.
    Und tatsächlich steht Kurt mit düsterem Gesichtsausdruck am Fruchtsaftstand neben dem Gitarrenspieler. In einer Hand balanciert er sein Handy und tippt wild darauf rum, in der anderen hält er einen überdimensionalen Plastikbecher mit frischgepresstem Orange-Mango-Grapefruit-Aloe-Vera-Saft. Als er mich erkennt, lässt er beide Arme sinken und blickt mich genervt an.
    »Du bist viel zu spät. Ich muss doch nachher noch zum Geburtsvorbereitungskurs.«
    »Kannst du mal bitte aufhören, so ein Klischee zu sein. Wir sind hier im Prenzlauer Berg, da kannst du doch nicht ernsthaft von Geburtsvorbereitung sprechen!«
    Ich kenne Kurt schon ewig. Wir hatten uns am ersten Tag in der Uni kennengelernt, am Anfang haben wir sogar das Gleiche studiert, aber schon bald gingen wir fächermäßig getrennte Wege.
    Wir stürzen uns ins Flohmarktgedränge. Hier ist es noch voller als im besten Club der Stadt an einem Samstagabend. Wahrscheinlich sind es auch in etwa die gleichen Leute.
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