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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian
Autoren: Genau mein Beutelschema
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mir das auch nur ein.
    »Alle sehen jetzt gleich aus: Röhrenjeans, riesige T-Shirts, dreckige Stiefel und natürlich Stoffbeutel mit lustigen Sprüchen drauf. Wie Klone.«
    Kurt muss schmunzeln, ein ungewohnter Anblick bei ihm, und zeigt mit dem Finger auf mich. Ich sehe an mir herunter. Ich weiß nicht, was er hat. Mein neues Oversize-Shirt sitzt perfekt, und meine Röhrenjeans und die dreckigen Stiefel passen stilsicher zusammen.
    »Immerhin steht kein lustiger Spruch auf deinem Stoffbeutel«, sagt Kurt und wendet sich zum Gehen. »Ich muss los.«
    Der schwangere Kurt entschwindet, um mit seiner Courtney die Geburt vorzubereiten.
    Ich schaue auf meinen Stoffbeutel. Die Edding-Schrift konnte Kurt nicht sehen, weil ich sie nach innen trage. Aber das wäre natürlich die Gelegenheit gewesen, ihm von meinemWochenende, von Christina Aguilera und Dr. Alban zu erzählen, aber irgendwie würde es sich seltsam anfühlen, mit ihm über meine sogenannten Partybekanntschaften zu reden, das versteht er doch gar nicht mehr. Unsere Lebenssituationen sind inzwischen zu verschieden. Er bekommt ein Kind, und ich versuche, ein Kind rumzukriegen, wenn ich das mal so drastisch ausdrücken darf. Gut, immerhin ist man mit einundzwanzig offiziell erwachsen …
    Früher hatten Kurt und ich noch halbwegs die gleichen Probleme: Wo ist die nächste Party? Woher bekomme ich das Geld dafür? Und wie verdränge ich möglichst effektiv, dass ich in einer Woche diese Hausarbeit über die Transzendentale Deduktion der Verstandesbegriffe in Immanuel Kants »Kritik der reinen Vernunft« abgeben muss? Aber inzwischen hat das Leben ganz schön zugeschlagen. Wir arbeiten in richtigen Jobs und gründen Familien. Also zumindest Kurt, ich nicht – und das ist das Problem. Ich weiß nur nicht genau, wessen.
    Ich drängle mich an den Bio-Essenständen neben dem Flohmarkteingang vorbei, um den Nachhauseweg anzutreten, dabei stoße ich fast gegen einen Touristen in beigefarbener Multifunktionskleidung. Er studiert aufmerksam die Spezialitäten, die auf dem Grill vor sich hin brutzeln. Schließlich deutet er auf etwas und fragt: »How much is the fish?«

4
All That She Wants
    Den Psychologenratschlag Nehmen Sie die Arbeit nicht mit nach Hause, machen Sie sich frei von den belastenden Erfahrungen des Arbeitstages sollten nicht nur Ärzte auf Krebsstationen oder Gefängnisseelsorger beherzigen, sondern auch Kleinanzeigenbetreuer. Wenn ich den ganzen Tag über meine sinnlose und eintönige Tätigkeit nachdenken würde, gerade während der Arbeitszeit, wäre ich innerhalb kürzester Zeit ein psychisches Wrack. Kleinanzeigen bleiben eben Kleinanzeigen. Selbst in ihren abartigsten Sexphantasien sind Leute, die in Stadtmagazinen inserieren, immer noch zutiefst durchschnittlich. Im Prinzip haben doch alle den gleichen Fetisch.
    Ich fahre vom Büro direkt nach Neukölln zu der Adresse, die Dr. Alban auf meinen Stoffbeutel geschrieben hat und wo heute die Galerieeröffnung stattfindet. Und eigentlich sollte ich gute Laune haben, schließlich treffe ich gleich Christina wieder, wenn alles gutgeht. Aber die Vorstellung, mich mit einer erfolgreichen Musikmanagerin womöglich über meinen sogenannten »Beruf« unterhalten zu müssen (ich höre sie schon unschuldig fragen: »Und was machst du so?«), lässt meine Stimmung auf Kurtsches Niveau herabsinken.Kleinanzeigenbetreuer – das habe ich in meinem Leben also erreicht. Na ja, ich habe auch Philosophie studiert. Fünfzehn Semester lang – mit Abschluss dann sogar. Besser als nichts. Ein ziemlich müdes Lebensmotto.
    Was habe ich in meinem Leben noch gemacht? Ich habe »Das Kapital« von Karl Marx bis Seite 57 gelesen (gutes Buch). Ich habe in der Schule mal den besten Aufsatz zu Michael Endes »Momo« geschrieben, den der Lehrer dann sogar vor der ganzen Klasse vorgelesen hat (das hat mir allerdings bei den Mädchen weder street credibility noch einen Zungenkuss eingebracht). Ich habe ein unbezahltes Praktikum bei einem Verlag gemacht und es nach zwei Wochen abgebrochen, weil ich nicht einmal Kaffee kochen durfte (die Maschine war sehr teuer, meinte der Chef). Mit der vielbeschworenen künstlerischen Selbstverwirklichung habe ich es vor ein paar Jahren natürlich auch probiert, das versucht wohl jeder in Berlin. Aber wie die meisten »Künstler« in dieser Stadt habe ich am Ende doch mehr Bier getrunken als Kunst gemacht.
    Eins dieser Hip-Hop-Kinder betritt die U-Bahn und stellt sich direkt vor mich. Es ist genau
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