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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian
Autoren: Genau mein Beutelschema
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genommen kein Kind, sondern ein sogenannter Jugendlicher. Er trägt Hosen, die bis zu den Kniekehlen hängen, sowie eine überdimensionale neongelbe Schirmmütze und hampelt die ganze Zeit nervös zu der Musik herum, die viel zu laut aus seinen Kopfhörern dröhnt. Genervt wende ich mich ab.
    Manchmal frage ich mich, was ich eigentlich die ganze Zeit während meines Studiums angestellt habe? Ich kann mich an kaum etwas erinnern. Das einzige Philosophiebuch, das ich in meinem Leben von vorn bis hinten gelesen habe, ist »Sophies Welt«. Und das war sogar noch vor dem Studium.
    Besser als nichts. Könnte auch heißen: Du hast nichts erreicht, dein Lebenslauf ist suboptimal, und wenn du stirbst, fehlt der Welt nichts. Ich komme mir mit meinem Selbstmitleid immer mehr wie Kurt vor. Oder wie diese ganzen Indie-Helden aus den netten Feelgood-Filmen und Popromanen, wie der sympathische Loser aus Nick Hornbys »High Fidelity« – auch so ein Phänomen der neunziger Jahre, von dem man nicht mehr loskommt, wenn man damals aufgewachsen ist. Nicht einmal mit meinen Lebensniederlagen kann ich noch originell sein. Darüber könnte ich schon wieder in Selbstmitleid verfallen – ein ewiger Kreislauf der Tristesse.
    Ich beobachte wieder den Hip-Hop-Jugendlichen, der jetzt auch noch nervös auf sein Smartphone eintippt und wahrscheinlich seinen Status bei Facebook aktualisiert: »Hey, ich bin grad in der U-Bahn, voll krass, Alter.« Außerdem rappt er zur Musik mit und macht mit seinem anderen Handy (warum haben diese Jugendlichen eigentlich immer zwei Handys?) ein Foto von seinen riesigen bunten Sneakers. Ein wahres Multitasking-Genie. Aber wahrscheinlich hat er nur ADS. Hat ja heute jedes Kind.
    Genauso wie alle Mädchen jetzt laktoseintolerant sind, was so vor vier oder fünf Jahren angefangen haben muss. Dass man keine Laktose verträgt, merkt man übrigens daran – so erklären das die meist sehr hübschen, ausschließlich blonden Mädchen –, wenn man sich nach elf Latte macchiato irgendwie schlapp fühlt, anfängt zu zittern und manchmal sogar leichte Bauchschmerzen bekommt. Da könnte ich ja auch behaupten, ich wäre bierintolerant. Wenn ich elf Augustiner trinke, fange ich auch gern mal an zu zittern und bekomme hin und wieder sogar leichte Bauchschmerzen.
    Vor lauter Aufregung wäre ich beinahe am Hermannplatz vorbeigefahren. Ich springe im letzten Moment aus der U-Bahn und mache mich auf den Weg zur Galerie. Schon aus der Ferne hört man trockene Minimal-Elektro-Beats über das untere Ende der Reuterstraße wehen. Immerhin die Musik ist erträglich, denke ich, als ich mich der Adresse nähere. Kurt hatte natürlich keine Zeit mitzukommen, ich weiß gar nicht, warum ich ihn noch frage.
    »Außerdem wird da doch bestimmt geraucht, und da muss man aufpassen, wenn man schwanger ist«, hat er am Telefon gesagt.
    »Du bist nicht schwanger.«
    »Du bist auch keine einundzwanzig mehr und treibst dich trotzdem immer noch auf allen Partys rum.«
    Manchmal ist Kurt echt anstrengend. Dabei verstehe ich ihn eigentlich, er macht das schon alles richtig. Vielleicht sollte ich ihm das mal sagen, aber irgendwie können wir auch darüber nicht reden. Wahrscheinlich liegt es an mir. An meiner Angst oder wie ich es nennen soll, dass ich am Ende übrigbleibe, allein in meiner Wohnung im tristen Tiergarten.
    Vor der Galerie hat sich eine Menschentraube gebildet, Christina und Dr. Alban scheinen aber noch nicht da zu sein. Die Galerie selbst ist klein, und nur ein paar ältere Herren in Sakkos stehen herum und betrachten die weißen Wände. Wobei sie nicht ganz weiß sind, wie ich auf den zweiten Blick feststelle, denn an der Wand hängen mehrere, ebenfalls weiße Leinwände. Ich beobachte die Sakkomänner, wie sie gefühlte fünf Minuten vor einer Leinwand stehen, sich dabei nachdenklich am Kinn kratzen, einen Schluck aus ihrem Sektglas nehmen und schließlich zur nächsten weißen Leinwand gehen und dort das Procederestoisch wiederholen. Einmal sagt einer von ihnen leise: »Stark, diese gefühlvolle Darstellung von nichts.«
    Ich nehme mir schnell einen Sekt vom unbeaufsichtigten Tisch im noch kleineren Hinterzimmer der Galerie und gehe wieder nach draußen. Christina und Dr. Alban sind immer noch nicht gekommen. Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tun soll. Die anderen Hipster scheinen sich alle zu kennen und würdigen mich keines Blickes, und im Gegensatz zu den Sakkoherren sind sie natürlich alle wahnsinnig jung.
    Ich fange an zu
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