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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian
Autoren: Genau mein Beutelschema
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Alban ist jetzt ganz aufgeregt, der Gedanke scheint ihn wirklich zu begeistern.
    Woher kennt er Die Stereotypen? Weiß er mehr von mir, als er sagt? Abgesehen davon habe ich keine Ahnung, wovon er spricht, deswegen schaue ich erst einmal interessiert und sage »Äh …« und »Ach so …«, dann fällt mir nichts mehr ein. Außerdem macht mir diese Müdigkeit immer mehr zu schaffen, gleich fallen mir die Augen zu.
    »Natürlich ist das Neuköllner Shoegaze-Elektro-Duo Smashing Schönheit mit seinem Debütalbum ›I smash the Schönheit‹ in diesem Zusammenhang ein Paradebeispiel. Deren Sänger ahmt ja bis in die kleinsten Details den leicht stotternden Gesangsstil der Sikhs on Speed nach. Die Beats klingen ebenfalls fast identisch, sind nur etwas cleaner.«
    Dr. Alban ist während seiner kleinen Rede aufgestanden und gestikuliert wild vor mir rum. Obwohl ich gar nicht mehr auf seinen Redeschwall reagiere, hört er einfach nicht auf zu dozieren.
    Die Bedeutung seiner Wörter verschwimmt zusehends, bis ich gar nicht mehr verstehe, was er sagt. Schließlich gebe ich meinem Verlangen nach, die Augen zu schließen. Eine Woge des Wohlbefindens überschwemmt mich. Ich merke, wie ich langsam vom Wachzustand in den Schlaf hinübergleite, und zwei eigentlich sehr beunruhigende Gedanken versinken im Zeitlupentempo in meinem Unterbewusstsein:

    1. Langsam verliere ich meinen popkulturellen Wissensvorsprung (wenn ich den überhaupt mal hatte). Die junge Generation weiß jetzt schon so viel mehr als ich. Vielleicht hat das ja mit dem Älterwerden zu tun, vielleicht aber auch nur mit diesem verdammten Internet.
    2. Ich habe Dr. Alban noch gar nicht gefragt, wann ich Christina wiedersehen kann.
    Dann schlafe ich ein.
    Stille.
    Als ich wieder aufwache, liege ich mit dem Kopf auf dem Sperrmülltisch in einer Lache Mate. Ich richte mich schwerfällig auf. Dr. Alban ist verschwunden. Wie lange habe ich geschlafen? Ich schaue mich in der Bar um, niemand scheint Notiz von mir zu nehmen. Am Nebentisch sitzen zwei Hipster und starren cool aus dem Fenster auf die dunkle Straße. Alles ganz normal.
    Ich habe tatsächlich meine Chance vertan herauszufinden, wie ich Christina wiedertreffen kann.
    Schwerfällig erhebe ich mich aus meinem Sessel und stolpere zur Tür. Immer noch ziemlich müde und erschlagen,mache ich mich auf den Nachhauseweg. Ich will zur U-Bahn-Station Hermannplatz, finde aber den Weg nicht mehr. Die No-Name-Bar scheint ganz woanders gewesen zu sein, als ich dachte. Ich habe allmählich das ungute Gefühl, die ganze Zeit im Kreis zu gehen.
    An einer Straßenecke steht vor einer Hertha-BSC-Fankneipe ein bärtiger älterer Mann in einer abgetragenen Lederweste und blickt an mir vorbei. Die Fankneipe ist komplett in Blau-Weiß gehalten, den Hertha-Vereinsfarben, hinter den speckigen Fensterscheiben hängen vergilbte Wimpel und uralte Poster von schnurrbärtigen Achtziger-Jahre-Fußballern mit Vokuhila-Frisuren – eigentlich sehen sie kaum anders aus als die heutigen Hipster.
    Der bärtige Mann harrt regungslos vor der Kneipentür aus, und sein Gesicht lässt erahnen, dass er ein ziemlich hartes Leben hinter sich hat. Er verkörpert das alte Neukölln. Das Neukölln der gutbürgerlichen Gemütlichkeit und türkischen Betriebsamkeit, heimgesucht von brutalen Jugendgangs, die dachten, sie wären hier im krassen Ghetto. In Rest-Deutschland denken ja immer noch die meisten Leute, dass es in Neukölln so zugeht wie in der Bronx oder im Südjemen.
    Ich bleibe ein paar Meter von dem Mann entfernt stehen und stelle verwundert fest, dass er nicht etwa ein Bier in der Hand hält, sondern eine halbvolle Mate-Flasche. Verunsichert laufe ich weiter, aber als ich an ihm vorbeigehe, beugt er seinen Kopf nach vorn und flüstert mir zu: »Willkommen im Club Mate.«
    Ein starker Geruch geht von ihm aus, ein Verwesungsgeruch, denke ich entsetzt. Er riecht genau wie dieses Parfüm, mit dem sich die Gothic-Leute immer besprühen, weiles so schön nach Gruft und Mittelalter duftet. Ich bleibe stehen, aber ehe ich mich versehe, dreht er sich um und wankt schwerfällig zurück in die Hertha-Kneipe. Die große alte Eichentür fällt krachend hinter ihm ins Schloss.
    Langsam gehe ich weiter und stehe auf einmal vor der Rütli-Schule, die ja vor ein paar Jahren in den Medien war, weil es dort anscheinend »Gewaltexzesse« gab, Schüler Lehrer mit Maschinengewehren und Handgranaten bedrohten, was weiß ich. Auch so ein berühmt-berüchtigter Ort des alten
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