Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian
Autoren: Genau mein Beutelschema
Vom Netzwerk:
dann wohl ihr Beschützer, auch nicht besser.
    Schon wieder beginnt ein neuer Song, »Hyper Hyper« von Scooter. Unglaublich, ich kenne wirklich jedes Lied.
    »Immer wenn man denkt, es könnte nicht schlimmer werden, wird es doch noch schlimmer«, sage ich und beobachte die Hipster-Jünglinge auf der Tanzfläche, wie sie zu diesem unterirdischen Landproleten-Großraumdisko-Hit abgehen.
    »Gefällt dir die Musik nicht?« Dr. Alban blickt mir ernst in die Augen.
    »Soll das ein Witz sein?« Ich merke, wie ich langsam schlechte Laune bekomme. Dieser Dr. Alban ist mir sofort unsympathisch, keine Ahnung, wieso. Vielleicht weil er intelligenter und fotogener ist.
    »Tut mir leid«, sage ich. »Ich kann das nicht ironisch gut finden. Ich bin mit dem Scheiß aufgewachsen. Ich habe meine ganze Jugend damit verbracht, mich von den Backstreet Boys und diesem Eurodance-Mist abzugrenzen. Und jetzt kommt das alles wieder zurück. Das Achtziger-Jahre-Revival konnte ich noch mitmachen. Duran Duran oder Wham! musste ich ja in meiner Jugend nicht ertragen. Aber das hier geht zu weit.«
    Dr. Alban betrachtet mich eingehend, als wäre ich eine exotische Insektenart und er ein Tropenforscher mit riesiger Brille. Ich will noch einen Schluck Club-Mate-Wodka nehmen, merke aber, dass die Flasche leer ist.
    »Das ist auch nicht ironisch, Mark«, sagt Dr. Alban trocken. »Das ist postironisch.«
    Postironisch? Meint er das jetzt ironisch? Oder postironisch ironisch? Oder gar ernst? Und was ist der Unterschied? Ich suche in seinem Gesicht nach einem Hinweis, aber er starrt mich ausdruckslos an. Mir fällt nichts mehrein, was ich dazu noch sagen könnte, deswegen frage ich, wo Christina Aguilera denn so lange hin sei.
    »Christina Aguilera?« Auf Dr. Albans Gesicht zeichnet sich so etwas wie Unverständnis ab. Seine erste halbwegs eindeutige Gefühlsregung.
    »Na, du weißt schon, deine Freundin. Also, nicht Freundin, sondern, ja …« Ich beschließe, diesen Satz nicht zu beenden.
    »Please speak in a whole sentence«, sagt Dr. Alban.
    In diesem Moment steht Christina wieder vor uns, und ich stelle mit Entsetzen fest, dass sie ihre Jacke trägt und einen riesigen Rundschal um ihren Hals gewunden hat. In der Hand hält sie einen grünen Parka.
    »Marky, wir müssen leider los.« Sie reicht Dr. Alban seinen Parka. »Vielleicht hast du ja mal Lust auf ein Duett? Meld dich einfach bei meinem Manager.«
    Sie umarmt mich kurz, und ich rieche wieder ihren Geruch, der natürlich nicht nur nach Rauch und Mate riecht, sondern auch nach, ja – nach was? – nach ihr.
    Drei Sekunden später drängeln sich die beiden durch die tanzende Menge Richtung Ausgang. Aber kurz bevor sie die Treppen zum Hinterhof erreichen, dreht sich Christina noch einmal um und lächelt mich an, ganz unironisch, und ich hoffe auch unpostironisch. Dann verschwinden die beiden im Gedränge am Ausgang. So viel hat sich auch nicht geändert seit meiner Schulzeit. Die hübschen Mädchen spielen immer noch Spielchen mit meinem Herzen.
    In diesem Moment verklingt gerade DJ Bobos Überhit »There is a Party«, und die ersten Akkorde von …
    Ich kann es nicht glauben, der DJ spielt es einfach noch einmal, das letzte Mal ist doch gerade eine halbe Stundeoder so her. Aber die Menge feiert wieder total, alle singen mit, wenn die Backstreet Boys mit verletzlichem Timbre zum Refrain ansetzen:
    »Quit playing games with my heart.«

2
It’s My Life
    Berlin ist ein Dorf. Das sagen die Neuzugezogenen gern, wenn sie davon ablenken wollen, dass sie diese anonyme, manchmal furchtbar abweisende Großstadt ziemlich mitnimmt. Berlin ist kein Dorf. Man kann jahrelang durch Berlin laufen, es mit der U- und S-Bahn oder unter Lebensgefahr mit dem Fahrrad durchqueren, ohne eine Menschenseele zu treffen, die man auch nur über drei Ecken kennt oder wenigstens schon einmal aus der Ferne gesehen hat.
    Wie soll ich also Christina jemals wiederfinden?
    Zu allem Überfluss wohne ich nicht in Neukölln. Ich wohne auch nicht in sonst einem angesagten und tollen Stadtteil. Ich wohne in Tiergarten. Der Tiergarten ist zwar auch der große Park mitten in Berlin, an dessen Rand der Zoologische Garten liegt, aber vor allem ist Tiergarten ein ganz normaler Stadtteil. Das wissen natürlich alle Berliner, trotzdem fangen sie ausnahmslos an zu lachen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich tatsächlich da wohne. »Tiergarten«, rufen sie dann, und einer macht »Muh Muh« und »Piep Piep«, und alle lachen noch lauter. In
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher