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Leerer Kuehlschrank volle Windeln

Leerer Kuehlschrank volle Windeln

Titel: Leerer Kuehlschrank volle Windeln
Autoren: Mario D Richardt
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WALD
    Kurz bevor Johanna neun Monate alt ist, begleite ich meine Frau zu einer Weiterbildung. Als Babysitter. Und das ist für ein ganzes Wochenende mein einziges Einsatzgebiet. Ich werde auf Kinderbetreuung reduziert und bin Ganztagsvater. Bisher hat sich Christin in der Elternzeit komplett um unseren Wirbelwind gekümmert, während ich bei der Arbeit war. Nun muss ich ran und ihr den Rücken freihalten. Das wollte ich zwar von Anfang an machen und den großen Vorzeige-Kümmerer mimen – doch mir wurde bald klar, dass mir zwei wichtige Argumente fehlen, die ich abends vor dem Schlafengehen und in der Nacht brauchen würde. Also müssen Johanna und ich dorthin mitfahren, wo auch die Brüste sich aufhalten. Ich sehne den Tag herbei, an dem statt des Einschlaf-Stillens eine Gutenacht-Geschichte ausreicht, denn nun sitze ich in aller Hergottsfrühe in einem Kuhkaff im letzten Zipfel Deutschlands fest, mitten im Wald, ein paar hundert Meter von der Grenze entfernt. Hier sagen sich Fuchs und Hase nicht nur »Gute Nacht!«, sondern auch wieder »Guten Morgen!«.
    Während sich Christin in einem Seminarraum wahrscheinlich schon langweilt, warte ich in einem Spielzimmer neben der Rezeption des Sport- und Tagungskomplexes auf die Übergabe der Zimmerschlüssel. Johanna und ich sind die einzigen Gäste in diesem Raum – und gemeinsam frieren wir uns den Hintern ab. Irgendein Depp hat am Abend zuvor das Fenster sperrangelweit offen gelassen, und die Kälte von draußen hat sich in jeder Ritze eingenistet. Was macht man mit einem Kleinkind, wenn man weiß, dass man die nächsten vier Stunden in diesem Eisschrank überbrücken muss? Bis jetzt habe ich maximal zwei Stunden ganz allein mit meiner Tochter verbracht. Zwei volle Tage – mit kurzen »Mama hat Pause«-Unterbrechungen – sind eine völlig neue Gesamtsituation.
    Wir sitzen dick eingemummelt auf einer Matte und glotzen uns erwartungsvoll an. Viel ist hier nicht los. In einer Ecke steht eine Kletterwand, gegenüber ist ein Kuscheltierberg aufgetürmt. Dann stehen da noch ein riesiges »Vier gewinnt«-Spiel aus Kunststoff und ein Schrank, in dem zerfledderte Kinderbücher, ein paar kaputte Spielzeugautos, Plastik-Indianer und angenagte Holzbausteine herumgammeln.
    »Und nun?«, frage ich meine Tochter – wohl wissend, dass ich nicht wirklich mit einer Antwort rechnen muss.
    »Da!«, flüstert Johanna und guckt in Richtung Bausteine. Dann klatscht sie sich voller Vorfreude auf den Bauch und versucht in gewohnter Manier loszurobben. Doch hier ist nix mit Robben. Statt des glatten heimischen Parketts liegt sie nun auf der rauen Oberfläche eines Teppichs und kommt mit ihrer bewährten Technik keinen Zentimeter vorwärts. Aber schon ein paar verwunderte Zehntelsekunden später zeigt sie mir, dass sie ein ganz schlaues Mädchen ist. Als ob sie es noch nie anders gemacht hätte, hebt sie ihren Po hoch, stößt sich plötzlich mit den Knien ab und krabbelt zu den Holzbausteinen. SIE KRABBELT! Dabei gluckst sie ganz laut vor Erstaunen und Freude. Anschleichen ist offenbar nicht ihr Markenzeichen. Spätestens jetzt wissen die Plastik-Indianer, dass Little King Kong im Anmarsch ist. Ihre Mutter wird staunen, wenn sie sieht, dass urplötzlich aus Frau Robben eine Frau Krabbel geworden ist.
    Ihre neu erworbene Fähigkeit baut Johanna in den kommenden Stunden weiter aus. Wir jagen uns gegenseitig krabbelnd durch den Raum, und es sieht einfach nur zum Schießen aus, wie der winzige Windelhintern durchs Zimmer wackelt. Zur Abwechslung baue ich Wolkenkratzer aus Holzbausteinen, die meine Tochter kurzum mit einem Handschlag einreißt. Gleich danach geht die Krabbelei weiter. So vergeht die Zeit schneller als erwartet – und als Christin zur Mittagspause im Türrahmen erscheint, liegt der Rest ihrer Kleinfamilie erschöpft auf dem Boden.
    Nach dem Mittagessen vom Selbstbedienungsbuffet in einem Speiseraum, der seine beste Zeit in den siebziger Jahren hatte und seitdem nicht verändert wurde, können wir unser Zimmer beziehen. Auch das gleicht in Architektur und Ausstattung einer DDR -Jugendherberge aus den späten Siebzigern. Während meine bessere Hälfte wieder in Richtung Seminarraum verschwunden ist, steht für mich die nächste Betreuungs-Etappe an – und die ist kinderleicht. Ich schiebe Johanna im Buggy kreuz und quer durch das waldige Gelände, und sie liegt im Wagen wie eine britische Pauschaltouristin am Strand von Mallorca. Arme und Beine weit von sich gestreckt, lässt sie
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