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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug
Autoren: Joy Fielding
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drohende Stürme alle Läden schließen. Wie man anderswo ein Ferienhäuschen winterfest macht, würde Palm Beach sich sommerfest verbarrikadieren.
    Gail spazierte über den breiten Strand. Der Sand war hart, und es ging sich angenehm darauf. Sie hatte diesen Küstenabschnitt immer besonders gern gemocht. Selbst in der Hochsaison war es hier nie so überfüllt wie in Fort Lauderdale oder in Miami. Gail löste den Blick vom Meer und sah zu der Silhouette weißer Flachbauten hinüber. Die neueren Wohnanlagen wiesen abenteuerlich geschwungene und verwinkelte Formen auf, die alle dazu dienten, den Blick aufs Meer so weit wie möglich auszunutzen
und die Fensterfronten bis zum äußersten zu vergrößern. Balkongitter führten um Hausecken herum; Menschen sonnten sich in Liegestühlen, vor sich eine Flasche Wein. Kann das Leben schöner sein? schienen sie zu fragen.
    Gail kam an die Brücke von Boynton Beach. Rechts und links warfen Fischer ihre Angeln aus. Sie ging an ihnen vorbei bis ans äußerste Ende der Brücke. Das Meer war ruhig, die Wellen kräuselten sich leicht. Gail schaute hinunter ins Wasser. Seine Ruhe hatte sich schon immer auf sie übertragen, und selbst heute wirkte der Zauber des Meeres. Nichts war wirklich so wichtig, wie man glaubte, schienen die Wellen ihr zuzuflüstern. Man durfte das Leben nicht so ernst nehmen.
    Gail machte kehrt und ging zurück zur Wohnung ihrer Eltern. Als sie am Swimming-pool vorbeikam, sah sie nach der Uhr und stellte fest, daß ihr Spaziergang über zwei Stunden gedauert hatte. Ihre Beine schmerzten; sie hatte sich erneut einen Sonnenbrand zugezogen. Was soll’s, dachte sie und sprang ins Becken, um sich abzukühlen. Wenigstens werde ich eine braungebrannte Leiche sein. Sie sieht so gut aus, hörte sie die Leute flüstern, die an ihrem offenen Sarg vorbeidefilierten. Nein, dachte sie, als sie auftauchte, um Luft zu holen, den Sarg würde man zweifellos verschließen. Die wenigsten würden sich einen halb weggeschossenen Kopf anschauen wollen, ganz gleich, wie gebräunt der übrige Körper sein mochte.
    Sie mußte über sich selbst lachen, so albern kam sie sich vor. Vom Beckenrand her machte eine Frau ihr Zeichen. Gail schwamm zu ihr hin. »Ja?« fragte sie und neigte den Kopf hin und her, um das Wasser aus den Ohren zu schütteln.
    »Ich hab’ gesagt, Sie müssen duschen, ehe Sie in den Pool gehen«, tadelte die Frau mürrisch und wies dabei auf ein Schild neben sich. »Das steht ausdrücklich in den Vorschriften.«
     
    Zum Abendessen machte Gail sich einen schmackhaften Salat. Es waren noch ein paar von den Shrimps übrig, die Jack vor seiner
Abreise gekauft hatte. Gail überlegte, ob sie wohl noch gut seien. Sie roch daran, war sich zwar nicht sicher, kippte sie aber trotzdem in den Salat. Dann nahm sie eine Flasche ihres Lieblingsweins, einen Verdicchio, aus dem Kühlschrank. Sie entkorkte die Flasche und goß sich ein volles Glas ein. Dann setzte sie sich an den Tisch, vor sich den Salat, den Wein, den Geburtstagskuchen und den Revolver.
    »Zum Wohl«, sagte sie.
    Sie aß den Salat. Als sie fertig war, ging sie mit dem Teller zur Spüle und wusch ihn ab. Sie wollte kein schmutziges Geschirr zurücklassen. Wer immer sie entdecken würde, sollte die Wohnung in tadellosem Zustand vorfinden. Wer wird es wohl sein? überlegte sie, während sie das Glas leerte und sich ein zweites einschenkte. Höchstwahrscheinlich der Hausverwalter. Irgend jemand würde ihm berichten, daß man sie schon längere Zeit nicht mehr gesehen habe. Vielleicht würde auch jemand versuchen anzurufen und sich Sorgen machen, weil niemand abhob. Hoffentlich würden nicht ihre Eltern sie finden. Nein, das war nicht anzunehmen. Bestimmt würde man sie entdecken, bevor ihre Eltern zurückkamen. Sie würden die Wohnung durchsuchen und sie schließlich in der Dusche finden. Dort würde sie die wenigsten Spuren hinterlassen. Sie wollte keinen unnötigen Dreck machen. Ihr Selbstmord verstieß womöglich sowieso schon gegen die Vorschriften.
    Sie setzte sich mit dem zweiten Glas Wein an den Tisch und überlegte, ob sie eine Nachricht hinterlassen sollte. Was könnte sie schreiben? Leb wohl, grausame Welt? Ich habe dich zu ernst genommen. Ich überlasse dich deinen Ungeheuern. Ich will nicht in einer Welt leben, in der Kinder vor ihrem siebten Geburtstag sterben. Ihr Blick fiel auf den Kuchen.
    Sie brauchte keine Nachricht zu hinterlassen. Alle würden ihre Beweggründe kennen. Man würde richtig bemerken,
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