Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Titel: Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Autoren: Barbara Beuys
Vom Netzwerk:
sie Gleichgesinnte: jüdische Emanzipation als Massenbewegung, wieder waren die Niederlande eine große Ausnahme in Europa.
    1900 – In Amsterdam wurde feierlich ein markantes Gebäude eingeweiht: die »Burg der Arbeit« in der Franselaan, heute Henri Polaklaan, nur Minuten vom Amsterdamer Zoo entfernt. Die Burg – »de Burcht« – fügt sich eindrucksvoll in die Reihe der neuen Bauten, die in kaum zwei Jahrzehnten gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Bild einer verschlafenen Stadt ins Großstädtische wendeten. Henri Polak, der Gewerkschaftsführer, hatte seinen Freund Hendrik Petrus Berlage, den neuen Star-Architekten Amsterdams, dafür gewonnen, eine großräumige Zentrale für den ANDB zu bauen. Das entsprach der Machtposition und dem Ansehen der Diamantarbeiter-Gewerkschaft, das sie in wenigen Jahren innerhalb der Gesellschaft erworben hatte. Berlage, von der großen Zukunft des Sozialismus überzeugt, stellte in die kleine bürgerliche Villenstraße einen wuchtigen Stadtpalazzo nach italienischem Vorbild. Er konzipierte ein Gesamtkunstwerk, ganz im Sinne von Henri Polak. Für Polak sollte der Sozialismus – im Gegensatz zum Kapitalismus – alle Sinne des Menschen ansprechen und zur Entfaltung bringen: Verstand und Gefühl, Ethik und Ästhetik.
    Für den Architekten Berlage, 1856 in Amsterdam in eine liberal-bürgerliche Familie geboren, war es kein Gegensatz, gleichzeitig für Arbeiter und Kaufleute zu arbeiten. Während der Bau entstand, der die Würde der Arbeiterklasse verkörperte, wuchs nach seinen Entwürfen die neue Kaufmannsbörse empor.
    Wie eine Burg des Kapitals steht der Steinkoloss am Damrak, mit hundert Meter langer strenger Backstein-Fassade und mächtigem Kampanile. Die Ähnlichkeiten mit der Burg der Arbeit entsprechen den sozialistischen Überzeugungen des Architekten: dass die Börse einst zum Palast des Volkes mutieren würde. 1903 wurde die »Berlage Beurs« feierlich eingeweiht. Hendrik Petrus Berlage war Avantgarde. Er hatte die Mode der neogotischen Paradebauten wie Rijksmuseum und Hauptbahnhof und das neuklassizistische Concertgebouw hinter sich gelassen und dem architektonischen Gesicht Amsterdams eine neue Vision von pathetischer Nüchternheit hinzugefügt.
    1901 genehmigte die Stadtverwaltung, was sie in den Jahren zuvor stets abgelehnt hatte: Mit Musik, roten Fahnen, Liedern und Spruchbändern zogen die Arbeiter am 1. Mai offiziell durch Amsterdam, und so würde es nun jedes Jahr geschehen. 1902 wurde Henri Polak als erster Sozialdemokrat Mitglied im Gemeinderat von Amsterdam. 1903 wurden auf Vorschlag der Gewerkschaft zu Spitzenzeiten am frühen Morgen und Abend »Arbeiterstraßenbahnen« mit verbilligten Fahrkarten eingesetzt. Die Stadt hatte am 1. Januar 1900 die privaten Pferdestraßenbahnen übernommen und sofort mit Elektrifizierung und Netzerweiterung begonnen. Bei einer Probefahrt der »Arbeitertram« durften die Arbeiter allerdings nur den Beiwagen nutzen. Empört meldete sich Henri Polak im Gemeinderat zu Wort: »Die Tram ist ein demokratisches Verkehrsmittel, das keinen Unterschied von Rang und Klasse kennt noch kennen darf!« Niemand im Rat widersprach. Die Diskriminierung wurde umgehend aufgehoben.
    Am Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich Amsterdams Bevölkerung mit 520   000 Menschen im Vergleich zu 1875 mehr als verdoppelt; gut 11 Prozent der Hauptstadt-Bewohner waren Juden. Neben den Straßenbahnen füllten 20   000 Fahrräder und 15   000 zweirädrige Handkarren die Stadt. Auch Pferdekutschen waren noch unterwegs. Um das Chaos wenigstens etwas zu regulieren, wurde 1902 die erste Verkehrsregel in Amsterdam eingeführt und galt für alle: »Rechts halten.« 1906 verschwanden die letzten Pferdetrams aus dem Straßenbild, und zwölf elektrische Straßenbahnlinien versorgten nun die Bevölkerung. Nachdem 1904 die erste elektrische Straßenbeleuchtung am Bahnhofsvorplatz installiert wurde, verschwand nach und nach auch das Gaslicht aus Amsterdam.
    Monne de Miranda gehörte zu denen, die redegewandt für den Fortschritt und die neue Zeit warben. Er war in Partei und Gewerkschaft in höhere Ämter gewählt worden und organisierte mit viel Geschick die Wahlkämpfe; alles neben seinem Beruf als Diamantschleifer. Die Eltern und Geschwister waren weiterhin auf seine Unterstützung angewiesen. Amsterdam, das war Mokum für Monne de Miranda. Zugleich waren Neugierde und Wissbegier, die er nicht mit einem ordentlichen Schulabschluss hatte befriedigen können,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher