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Leben im Käfig (German Edition)

Leben im Käfig (German Edition)

Titel: Leben im Käfig (German Edition)
Autoren: Raik Thorstad
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auf der Grundschule, daran erinnerte er sich genau -, waren sein unterdrücktes Zittern und seine blasse Nase zum ersten Mal seiner Lehrerin aufgefallen. Er hatte alles abgestritten, obwohl er nicht wusste, warum. Nach der Unterrichtsstunde hatte er sich im Schutz der Toiletten übergeben und war anschließend wie von Höllenhunden getrieben nach Hause gerannt. Sein Fahrrad, seine Jacke, sein Ranzen blieben in der Schule zurück. Nichts hätte ihn weniger interessieren können.
    Ein paar Wochen später besuchte er die Schule nur noch sporadisch, schwänzte oder klagte morgens am Frühstückstisch über allerlei Krankheitssymptome, um daheimbleiben zu dürfen. Und wenn alles nichts half, machte er sich zum Schein auf den Weg, nur um auf halber Strecke wieder umzudrehen und zurück in die Villa zu schlüpfen, sobald seine Eltern aus dem Haus waren.
    Wieder wusste er nicht, warum er so handelte. Er wusste nur, dass es richtig war und sich gut anfühlte – besser als der Aufenthalt in einem Klassenraum mit fünfundzwanzig anderen Kindern und dem Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.
    Natürlich blieb sein Verhalten nicht unbemerkt. Eine Reihe unangenehmer Gespräche und Untersuchungen folgten. Lehrer nahmen ihn beiseite und fragten ihn, ob bei ihm zu Hause alles in Ordnung sei. Die Eltern der anderen Kinder redeten über ihn. Er konnte sie miteinander tuscheln sehen, wenn er einmal einen Tag in der Schule durchgestanden hatte und den Pausenhof verließ.
    Und egal, wer ihn fragte, nie ließ er etwas auf seine Familie kommen. Bei ihnen stand alles zum Besten, abgesehen von der Kleinigkeit, dass seine Eltern selten daheim waren und nicht viel Zeit für ihn hatten. Dass es ihm panische Angst machte, sich außerhalb der Villa und gerade in Menschenmengen aufzuhalten, erwähnte er nie. Er war zu jung, um seine Ängste artikulieren zu können, aber alt genug, um zu spüren, dass er merkwürdig war. Anders als der Rest.
    Über die Jahre hatte sich die Schlinge um seinen Hals enger gezogen. Natürlich hatte es Versuche gegeben, ihm zu helfen. Es war nicht so, dass seine Eltern sich keine Sorgen um ihn machten. Nur waren sie mit der Diagnose, die gestellt wurde, nicht einverstanden.
    Kurz nach seinem zwölften Geburtstag fiel zum ersten Mal das Wort exzentrisch. Sein Vater hatte es in den Mund genommen. Er hatte mit seinem Schwiegervater telefoniert und war dabei gegen Ende laut geworden. Andreas, der im Wohnzimmer vor dem Fernseher hockte, hörte Richard von Winterfeld brüllen: „Mein Sohn ist nicht krank und braucht mit Sicherheit auch keinen verdammten Seelenklempner. Er ist halt etwas Besonderes und etwas exzentrisch. Das wächst sich aus!“
    Aber es hatte sich nicht ausgewachsen. Zumindest nicht bis zum jetzigen Zeitpunkt. Stattdessen war es schlimmer geworden. In den ersten ein oder zwei Jahren verschaffte der angeheuerte Privatlehrer Andreas etwas Erleichterung. Er wusste bis heute nicht, wie sein Vater es geschafft hatte, auf lange Sicht Hausunterricht für ihn durchzusetzen.
    In der heimischen Bibliothek unterrichtet zu werden, löste Andreas' Problem jedoch nicht. Mit jedem Tag schien sein Lebensraum ein bisschen enger zu werden. Jahr für Jahr fühlte er sich unwohler an fremden Orten, erwischte sich dabei, dass er permanent nach einem Fluchtweg suchte.
    Die schlechten Erfahrungen häuften sich und machten ihm immer mehr Angst. Irgendwann fragte er sich auch, was seine Mitmenschen dachten, wenn er plötzlich wie von der Tarantel gestochen ein Restaurant oder einen Supermarkt verließ. Schwitzend, zitternd, bleich, als hätte er ein Gespenst gesehen.
    Nach und nach entstand eine undefinierbare Todesangst, die ihn zu einem Tier auf der Flucht reduzierte. Sicher fühlte er sich nur in der Villa und auf dem umliegenden Gelände, bis er auch dieses Refugium aufgeben musste. Zuerst verlor er den Garten an die irrationalen Ängste. Er könnte zusammenbrechen, ein Flugzeug könnte auf das Grundstück fallen oder eine plötzliche Windhose ihn gegen den nächsten Baum schleudern.
    Schwachsinn, das wusste er. Dennoch hatte er seinen Horrorvisionen nichts entgegenzusetzen.
    Im Verlauf des letzten Jahres war hinzugekommen, dass er sich auch in den meisten Räumen des Hauses nicht mehr wohlfühlte. Ständig hatte er das Gefühl, seine Anwesenheit im Wohnzimmer oder in der Küche rechtfertigen zu müssen. Wann immer er sein Zimmer verließ, spürte er den Druck fremder Erwartungen auf seinen Schultern lasten.
    Noch wehrte Andreas
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