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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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folge den Querverweisen, gelange zu Entlastungsdepression, Leberkoma und der ammoniakalischen Enzephalopathie, die Bewußtseinsstörungen, Delir-Zeichen und Traumzustände hervorrufen kann. Hier bin ich richtig, mein Traumzustand beginnt, mich zu interessieren. Ist dieses schwebende Dazwischensein nicht genau das, was mir am Dasein so gefällt? Ist die schleichende Vergiftung vielleicht der Weichzeichner, der alles schön macht? Mein Instagram-Blick?
    Die Leber, lese ich weiter, war lange ein geheimnisvolles Organ. Es war nicht bekannt, wozu sie da ist, diese große Drüse, das schwerste Organ des menschlichen Körpers; bekannt war nur, daß der Verlust von Konzentrationsfähigkeit und die Gelbfärbung der Haut von Leberkrankheiten herrühren. Galen und Hippokrates waren der Meinung, die Leber sei das Zentrum der Körpergeister, der Ort, dem die Körpertemperatur entspringt sowie die Quelle des Bluts.
    Die Quelle des Bluts? Das Blut strömt jedenfalls hindurch, ununterbrochen. Außerdem produziert die Leber die Gallenflüssigkeit, und ich fange an, mich wieder für die Säfte der antiken Temperamentslehre zu interessieren, die schon wußte, daß die Leber etwas mit Stimmungen zu tun hat. In hippokratischer Tradition wird Melancholikern zu Weißwein geraten, der soll gegen die schwarze Galle helfen. Schließlich, ich lese kreuz und quer, stoße ich auf die These einiger Evolutionsmediziner, die behaupten, daß melancholische Zustände eine Funktion haben, immerhin ist sie in allen Kulturkreisen und Völkern, auch bei Naturvölkern bekannt. Herumgrübeln und Nachdenken scheint einen evolutionären Vorteil zu gewähren – weil einem manchmal, nach ein paar Jahren weit hinten in der Höhle, auf dem Sofa oder hier, im Krankenhaus, vielleicht doch etwas einfällt?
    Ich verlasse die Bibliothek und gehe unter den rotblühenden Kastanien zurück zum Bettengebäude. Auf der Mittelallee, ich muß die Augen nur halb schließen, fühle ich mich wie auf dem Gelände einer amerikanischen Campus-Universität: Ich habe ein Zimmer im Wohnheim, das ich mir mit einem Kommilitonen teile. Nur geht es hier eher weniger um die Erziehung meines Geistes, es geht mehr um meinen Körper. Mit dem wird alles mögliche angestellt.

37
    Ich habe, ich kann es nicht leugnen, einen Wasserbauch. Ich trage vier, fünf, sechs, sieben Liter Wasser mit mir herum, mein Bauchnabel steht heraus, ich kann ihn reindrücken, kurze Zeit später aber springt er wieder vor. Ich habe einen Kinderbauch, einen Bauch, wie zwei- oder dreijährige Kinder ihn haben.

38
    Zeus hat Prometheus dafür bestraft, daß er den Menschen das Feuer gebracht hat. Er kettet ihn auf einem Felsen an und läßt einen Adler jeden Tag ein Stück von seiner Leber fressen. Prometheus ist gefesselt, stirbt aber nicht, der Mythos weiß um die erstaunliche Regenerationsfähigkeit des Organs. Lebergewebe wächst nach, sieh an. Wachs doch nach, liebe Leber.

39
    Im alten Rom versuchten Zuschauer wohl manchmal, ein Stück von der Leber eines tapferen, im Kampf getöteten Gladiators zu erhaschen: Neunmal eingenommen, sollte Gladiatorenleber Epilepsie heilen können. Leider bin ich kein Gladiator.

40
    Ein Getränkehändler liegt neben mir, und ja, ich weiß schon, warum er hier ist: Getränkehändler haben viel zuviel zu trinken im Haus. Immer wieder, sehr krank scheint er sich nicht zu fühlen, steht er auf, verläßt das Zimmer und trifft sich, erzählt er mir, mit seiner Geliebten. Seine Frau und die Ärzte dürfen davon nichts wissen, ich soll sagen, er sei im Garten spazieren. Seine Frau kommt sonntags und bringt frische Schlafanzüge. Seine Geliebte – er kann sich nicht zurückhalten, mir das zu erzählen, und ich verstehe nicht gleich, daß er mich damit beeindrucken möchte – habe ein Nagelstudio in der Müllerstraße, gar nicht weit von hier, er brauche nur zehn Minuten bis in ihr Hinterzimmer. Ich will das alles gar nicht hören. Zu seinem Leberproblem, Berufskrankheit eines Getränkegrossisten, komme der kaputte Rücken, an den Bandscheiben wurde er auch schon operiert.

41
    Seine Ausflüge bringen mich auf eine Idee. Nach dem wie immer liegend eingenommenen Abendessen stehe ich auf, ziehe mich an, verlasse das Zimmer und die Station und nehme den Aufzug hinunter. Ich gehe zum Haupteingang, steige in ein Taxi und fahre zu einem Abendessen, ein Bekannter hat eingeladen. Zu neunt sitzen wir dann an einem großen Tisch in seiner Wohnküche, die Herausgeberin einer Kunstzeitschrift,
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