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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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schwanger, ihr Freund, eine Kritikerin, ein Galerist, eine Musikerin, eine Kuratorin und ein Videokünstler. Gespräche werden geführt, über den Oman als Reiseland, über die politische Situation in Italien und über die Vorteile und Wirksamkeit von Ingwertee bei Erkältung. Ich komme mir vor, als wäre ich zu Gast in einer Fernsehserie, als Statist; niemand hier weiß, daß ich gerade im Krankenhaus liege, ich verrate nichts. Die Nachtschwester bemerkt auf ihrer ersten Runde, jetzt, in diesem Augenblick vielleicht, mein leeres Bett. Ich bleibe zwei Stunden, esse wenig, trinke nur Wasser, verabschiede mich, bestelle ein Taxi und fahre zurück in die Klinik. Nach Hause. Keiner sieht mich auf dem Flur, die Nachtbeleuchtung ist schon an, ich nehme eine Wasserflasche aus dem Kasten neben dem Teewagen, setze mich in den Aufenthaltsraum und schalte den Fernseher ein.
    Später, ich liege wieder in meinem Bett, betritt die Nachtschwester im Halbdunkel das Zimmer, kontrolliert den Tropf meines Bettnachbarn, hängt eine neue Flasche ein und leert die Ente. Leise wünscht sie eine gute Nacht.

42
    Studierende kommen ins Zimmer und erinnern mich daran, daß ich in einem Universitätsklinikum liege, hier werden Ärzte ausgebildet. Ich bin ein interessanter Fall, kommt her, schaut mich an, ich habe meinen Auftritt im Bett, Zukünftige, was lernen wir heute? Seht nur, erkennt ihr, was ich habe? Versteht ihr die Zeichen und die Schrift auf meiner Haut?
    Vor Jahren, 1992 oder 1993, bin ich schon einmal in einem Hörsaal vor Studenten aufgetreten, in einer von B.s Vorlesungen, als Beweis dafür, daß ein Patient mit einer zu zwei Dritteln zerstörten Leber leben kann. Ich sagte ein paar Sätze – daß ich zurechtkäme, ja daß ich eigentlich ein ganz normales Leben führte, daß ich oft tage-, ja wochenlang gar nicht daran dächte, krank zu sein, und mich nur sehr selten krank fühlte, daß dieses Kranksein in meinem Selbstverständnis keine oder fast gar keine Rolle spiele, obwohl ich natürlich jeden Tag, morgens und abends, Medikamente nähme – manchmal nimmt er sie allerdings auch nicht, warf B. ein, was ich abstritt, obwohl er vielleicht recht hatte. Wahrscheinlich war auch damals schon, ich wollte davon bloß nichts hören, von einer möglichen Transplantation die Rede, ich zeigte den Studenten in der ersten Reihe, die, wenn überhaupt, nur zwei oder drei Jahre älter waren als ich, meine Unterarme, auf denen sie Spider naevi, Lebersternchen, und andere Leberzeichen erkennen sollten, sie stellten Fragen nach Symptomen wie Müdigkeit oder Gelbfärbung. Ich stand gerne da, ich zeigte meine Haut.
    Die Studenten, die jetzt hier im Zimmer stehen und inzwischen Studierende, nicht mehr Studenten heißen, betatschen mich, ich habe nichts dagegen. Sie lernen Tasten und Klopfen, sie lernen, sich auch ohne Ultraschall ein Bild von den inneren Organen zu machen, die Größe und Lage meiner geschwollenen Leber und ihrer Gallenblase zu fühlen, meiner Milz. Na ja, ich glaube, sie lernen es gar nicht wirklich, ihnen wird bloß vorgeführt, wie es lange gemacht wurde und weiterhin gemacht werden könnte, wenn es denn keinen Strom mehr gäbe, sie vergessen es sicher bald wieder, tatsächlich untersucht wird dann doch nur mit dem Sonographen. Hier und da machen sie Striche mit dem Kugelschreiber, sie malen mir auf die Haut, und mir gefällt’s. Höflich fragen sie immer wieder, ob sie hier und auch dort noch einmal dürften. Ich lasse sie, sonst werde ich ja kaum berührt, es zählen nur die Werte, das Heilen durch Handauflegen ist in dieser Klinik und überhaupt nicht mehr üblich. Ich mochte es, wie B. mich abtastete, abklopfte, abhorchte, jahrelang ging das so, einen ausgestreckten Zeigefinger auf der Bauchdecke, daneben geklopft. Was hat er da eigentlich gehört?
    Als sie fort sind, betrachte ich die Markierungen um meinen Nabel herum, versuche, sie zu entziffern, kann aber nicht lesen, was sie da hinterlassen haben. Morgen, denke ich, wasche ich das ab, die Schrift verwischt jedoch schon früher, ein paar Spritzer Desinfektionsmittel, zweimal darübergerieben, und sie ist weg. Da fällt mir ein, daß mein Auftritt in jenem Hörsaal vor B.s Studenten noch ein Nachspiel hatte. Vier oder fünf Wochen später, es war schon Sommer und das Semester fast zu Ende, sprach mich eine rotblonde Frau im Café Savigny an und sagte, sie habe mich in der Vorlesung gesehen. Sie lachte und gab zu, daß es ihr fast ein wenig unangenehm sei, schon so viel
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