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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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durchlebt haben oder zumindest kennen, es kommt zu Krankheitsangebereien, zu einem Wettbewerb der schweren Schicksale, und die schlimmste Krankheitsgeschichte gewinnt. Krankheit ist kein Makel mehr, im Gegenteil, in der Welt der Reha ist die Krankheit, Umwertung aller Werte, eine Auszeichnung. Sie hat uns immerhin an diesen Tisch gebracht.
    Ich versuche, nicht ständig zu lauschen, und lese während des Essens Zeitung. Trotzdem komme ich mit der Zeit dahinter, daß jede Krankheit, welche auch immer, ihrem Patienten eine Geschichte schenkt. Eine Geschichte, die er oder sie dann gern erzählt, immer wieder, mit Ausschmückungen, Verzögerungen, Abschweifungen und dramatischen Wendungen. Sich selbst erzählen zu hören heißt, noch zu leben. Zu reden heißt, ich bin nicht tot. Ich aber halte das Gequatsche nicht mehr aus. Ich habe für immer genug davon.

228
    Ich lerne wieder gehen. Jeden Tag ein paar Schritte mehr, jeden Tag ein Stück weiter. Ich schaffe zehn Meter, ich schaffe zwanzig Meter, ich schaffe es bis hinunter an den See. Es riecht nach Wald und Kiefern, kein Wunder, hier stehen Bäume, der Boden voller Eicheln und Kastanien federt unter meinen Füßen. In der dritten Woche habe ich einen neuen Lieblingssport, der Sport heißt Nordic Walking. Ich mache mich darüber lustig, stelle aber auch fest, daß Nordic Walking ungefähr genau so viel Spaß macht, wie es bescheuert aussieht. Und sieht es nicht sehr bescheuert aus?

229
    Besucher kommen an den See, die Freundin oder Ex-Freundin, wir sind uns da nicht so sicher, das Kind mit seiner Mutter, Herr und Frau Rutschky, Frau Hanika, Frau Rösinger, Herr Angele, Herr Merkel. Wir sitzen auf Bänken in der Sonne, im Café, am See.

230
    Ich möchte zum Frisör, ich war ja so lange nicht, ich wollte ja schon vor Wochen, will los, lese mich dann aber in dem älteren schwarzen Notizbuch fest, das noch in meiner Tasche war. Ich lese «Die müde Giraffe»:
    Warum bin ich bloß so müde? Ich bin so müde, ich kann nicht mal mehr schlafen.
    *
    Bin ich müde, weil ich bloß liege? Bin ich müde, weil ich schon so viel erlebt habe? Habe ich überhaupt etwas erlebt? Bin ich müde, weil ich noch nichts erlebt habe?
    *
    Die Müdigkeit kommt nach dem Essen, bei vollem Magen. Und im Sommer, in der Hitze. Und im Winter. Im Herbst aber auch. Von Frühjahrsmüdigkeit möchte ich nicht reden.
    *
    Bin ich müde, weil ich mit viel zu vielen viel zuviel geredet habe? Weil ich zuviel gesagt habe? Was habe ich gesagt?
    *
    Du reibst dir ja schon die Augen, sagte meine Mutter. Sich die Augen zu reiben galt als Zeichen von Müdigkeit. Und ich dachte, ich könnte mir den Schlaf oder die Müdigkeit aus den Augen reiben.
    *
    Der Schlaf, der morgens zwischen den Lidern klebt: Ist er die Substanz des Schlafs oder das Substrat der ausgeschiedenen Müdigkeit?
    *
    Du gähnst ja schon – das war der andere Satz meiner Mutter. Auch das Gähnen deutete sie als Zeichen, weshalb ich es abends in ihrer Gegenwart zu unterdrücken versuchte. Ein Gähnen zu unterdrücken ist aber gar nicht so leicht.
    *
    Und warum verabscheue ich fast keine andere Unhöflichkeit so sehr wie lautes Gähnen? Woher diese Überempfindlichkeit? Kein Körpergeräusch stößt mich so sehr ab wie das Gähnen. Nur weil ich selbst immer müde bin?
    *
    Allein das Wort, dieser gedehnte offene Vokal. Das Wort Gähnen auszusprechen bedeutet schon fast, es auch zu tun.
    *
    Müde werde ich bereits bei dem Gedanken an das, was ich alles hätte machen können. Die vielen Möglichkeiten machen müde.
    *
    Müdigkeit (defatigatio) sei Ausdruck eines Mißbehagens aufgrund einer Anstrengung, einer Krankheit oder eines unterdrückten Schlafbedürfnisses. So ungefähr steht es auf der Wikipedia-Seite. Aber wieso? Ist die Müdigkeit, die auf eine Anstrengung folgt, nicht eine Süßigkeit? Ist echte Müdigkeit nicht eine Belohnung?
    *
    Immer zu arbeiten macht müde, Nicht-Arbeiten, Herumliegen machen es aber auch.
    *
    Physiologische Müdigkeit wird durch ein Ungleichgewicht zwischen Anstrengung und Erholung verursacht, bei körperlicher oder geistiger Überbeanspruchung etwa. Oder durch Schlafmangel. Oder durch fehlende Motivation und Langeweile.
    *
    Weil ich immer so müde war, verabreichte meine Mutter mir schon ab dem zweiten Schuljahr morgens Kaffee. Mit viel Milch. Genaugenommen war es Milch mit einem Schuß Kaffee.
    *
    Seit Jahren werde ich auch von Kaffee müde. Es gab eine Zeit, da wirkte Kaffee belebend, leider ist das vorbei, Kaffee
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