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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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sehr euphorisch wird.

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    Die müde Giraffe
Normosome Konstitution in reduziertem Körperzustand mit feinschlägigem Tremor, psychisch unauffällig. Haut und sichtbare Schleimhäute o.B., kein Foetor, keine Ödeme. Kopf und Hals unauffällig ohne Anhalt für Infektion, keine obere Einflußstauung. Bauchdecke straff, keine Resistenzen tastbar, reizlose Narbe nach Transplantation, T-Drain in loca typico. Keine Hernien. Hypästhesie im Narbenbereich.

Ich darf packen und mich verabschieden, es geht in die Reha. Ein Krankentransport holt mich ab, ein Fahrer kommt mit einem Rollstuhl ins Zimmer, nimmt meine Reisetasche, und ich sage: Auf Wiedersehen, Zimmer, tschüs, Station. Und sitze bald in einem Kleinbus, wir rollen nach Norden aus der Stadt hinaus, mein Platz ist links am Fenster. Ich staune selbst, wie sehr ich mich über jedes Gebäude, jede Tankstelle, jede Industrieruine, jeden Billig-Discounter und jeden Baumarkt freue, ich habe so lange keine Teppich-Center mehr gesehen. Ich freue mich dann auch über die Autobahn und ihre Leitplanken und schaue von meinem leicht erhöhten Sitz in alle Autos, die uns überholen. In jedem Wagen sitzt mindestens ein Mensch.
    Mit mir im Bus befinden sich zwei weitere Patienten. Ich unterhalte mich mit einer Frau, sie kann nicht viel älter sein als ich. Wir sprechen über Jahreszeiten. Wir sprechen über das Wetter. Und ich denke schon erleichtert, alles ist gut, da fängt sie doch mit ihrer Krankengeschichte an, erzählt sie wie ein Abenteuer, als wolle sie sagen: Sieh, das alles habe ich durchgemacht, erlitten und bis hierher überstanden.

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    Die Klinik liegt an einem großen See, der See heißt Müritz und ist nicht tief. Ich liege auf einem großen Bett in einem Zimmer mit Balkon und theoretischem Seeblick, Bäume sind in die Aussicht gewachsen. Manchmal stehe ich auf dem Balkon und halte Ausschau nach einem der Seeadler, die es hier geben soll. Sehe aber keinen.

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    Drei- oder vierhundert Patienten dieser Klinik begegnen sich im Speisesaal zum Frühstück, beim Mittagessen, Abendbrot, auf dem Weg zum Buffet, beim Herein- und Hinaushumpeln. Zwei der Patienten sind jünger als ich, beide haben eine Nierentransplantation hinter sich gebracht, alle anderen, Herzkranke, Magenkranke oder sonstwie Kranke, sind älter als ich, sogar sehr viel älter, wahrscheinlich, denke ich, ist es das letzte Mal, daß ich irgendwo einer der Jüngsten bin. Morgens, mittags und abends sitzen wir zusammen bei Tisch, ansonsten verbringen wir unseren All-inclusive-Aufenthalt mit vorgeschriebenen Anwendungen und Aktivitäten; es gibt Stundenpläne für jeden Tag, und es kursiert das Gerücht, daß, wer zu viele seiner Anwendungen auslasse, die Rehabilitationsmaßnahme am Ende selbst bezahlen müsse. Ich glaube da mal nicht dran und verschlafe den Frühsport im Wald um halb sieben und lasse mich auch beim Korbflechten nicht blicken. Ich gehe, was nicht schaden kann, in den Kraftraum. Ich muß aufs Ergometer, zur Gymnastik und zum Schattenboxen, ich schwanke zwischen Töpfern und Speckstein-Bearbeiten, höre Vorträge zum Thema lebenslange Immunsuppression und den damit verbundenen Risiken. Und lerne, was ich alles nicht mehr essen darf: Rohes, Ungeschältes, alles aus der Erde. Nie wieder Salat. Am besten überhaupt nur Abgepacktes, Tiefgekühltes oder sonstwie haltbar Gemachtes. Konserven. Besser nichts Gutgemeintes aus dem Bioladen, Gutgemeintes hat zu viele Keime, keinen rohen Fisch, kein Sushi, aber das ist nicht so schlimm, es wird ja sowieso bald keine Fische mehr in den Meeren geben. Und Vorsicht vor großen Menschenansammlungen, vor Schwimmbädern, Kleinkindern und Kranken. Ich weiß schon, ich werde mich nicht immer daran halten. Ich sitze da, höre zu und höre nicht zu, ich komme mir vor wie in der Schule, male Männchen und Muster auf das Papier meines Spiralblocks und warte darauf, leider vergeblich, daß es zur großen Pause klingelt. Seit der Schulzeit habe ich mich nicht mehr so gelangweilt. Ich beginne, Männchen auf die Tische zu malen, und überlege, welchen Bandnamen ich einritzen könnte, aber mir fallen nur die ein, die ich schon in der neunten oder zehnten Klasse in Schulbänke geritzt habe. The Smiths, The Cure, Siouxsie and the Banshees.

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    Die Tischgespräche haben bloß ein Thema: Immer wird über Krankheiten geredet, hemmungslos und schamlos, als käme es darauf an, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Jeder will eine noch schlimmere Geschichte
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