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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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einer Idee von Rudolf Virchow – eine Krankenstadt!, habe der Kaiser zur Einweihung im Jahre 1906 gerufen. Die alten Pavillons dieser Krankenstadt wurden bis auf drei, in einem davon befindet sich jetzt die Krebstagesklinik für Kinder, alle abgerissen, heute stehen Hochhäuser an der Mittelallee. In einem von ihnen liege ich.

213
    Jede Viertelstunde steht der neue Bettnachbar auf, wischt imaginäre Krümel von seiner Bettdecke, zieht das Laken straff und schleppt sich zum Schrank, öffnet die Tür und wühlt in den Tüten, die in seinem Fach stehen, trinkt einen Schluck aus einer Saftpackung oder nimmt sich einen Apfel. Er hat eine große Tüte mit kleinen, verschrumpelten Äpfeln mitgebracht.
    In Sibirien habe er einen eigenen Garten gehabt, erzählt er, seit vier Jahren erst lebe er in Deutschland, und immer wieder sei er im Krankenhaus, jeden Monat einmal. Früher sei er mit einem Lastwagen durch Sibirien gefahren und habe Stämme zum Sägewerk und Bretter vom Sägewerk zu Baustellen transportiert, durch die Taiga, manchmal bei minus vierzig Grad. Bei unter vierzig Grad Kälte gehe nicht mehr viel, dann funktionierten Verbrennungsmotoren nicht mehr, und der Wodka, er habe bei solchen Temperaturen nur mit Wodka fahren können, wärme auch nicht mehr richtig. Nach fast vierzig Wodkawintern sei die Leber halt kaputt.
    Deshalb also ist er hier. Sein Bauch ist geschwollen, und wälzt er sich aus dem Bett, wälzt er zwanzig Liter Wasser mit, alle vier Wochen werden die im Krankenhaus abgelassen. Dann läuft er wieder voll.

214
    Ich hatte einmal einen Erdkundelehrer, der von Sibirien schwärmte. Von der Weite, Kälte und Größe, er schwärmte auch von den großen Projekten der Sowjetunion, der Umleitung der sibirischen Ströme zur Bewässerung der Steppen im Süden und neuen Städten im Eis. Alt genug, um als Kriegsgefangener dort gewesen zu sein, war er nicht, seine Sibirieneuphorie wäre in dem Fall wohl weniger groß gewesen. Vielleicht hatte er eine Erdkundelehrerreise mit der Transsibirischen Eisenbahn gemacht? Oder träumte davon? Ich weiß noch, daß dieser Lehrer, Herr Gelhar, unserer achten oder neunten Klasse empfahl, uns, wenn überhaupt, dann doch bitte mit Wodka zu betrinken und nicht mit süßen, bunten Likören. Besser kein Baileys, kein Blue Curaçao, sondern Wodka, sagte er, der erzeuge den reinsten und klarsten Rausch und verursache weniger, meist gar keine Kopfschmerzen am nächsten Morgen. Er kannte sich anscheinend aus.

215
    Ja, der Mensch muß alles durchmachen, sagt mein Bettnachbar und unterbricht damit sein Stöhnen. Er stemmt sich Richtung Schrank und nimmt sich wieder einen Apfel aus seiner Apfeltüte, einen kleinen, gelben, wurmstichigen Apfel. Die Äpfel, das hat er mir schon erzählt, findet er auf einem unbebauten Grundstück irgendwo im Osten, keiner will sie haben, er sammelt sie auf. Er setzt sich wieder auf sein Bett, viertelt die Frucht mit seinem Taschenmesser, schneidet das Kerngehäuse heraus, schält die Viertel und steckt sie sich mit der Klinge seines Messers, die Klinge ist rostig, in den Mund. Als er das letzte Apfelviertel gegessen hat, steht er wieder auf, geht zum Schrank, schaut in drei seiner sieben Tüten nach und findet schließlich die Schachtel, in der sein Elektrorasierer steckt, ich hätte ihm sagen können, daß der Rasierer in der Kaufhoftüte ist, er hat ihn schon dreimal aus- und wieder eingewickelt. Kaum hat er einige Stoppeln in seinem Gesicht rasiert, legt er den Apparat zurück in den angestoßenen Originalkarton, aber da liege ich längst nicht mehr in diesem Zimmer, ich liege auf der Wiese seines sibirischen Gartens, von dem er so schwärmt, Pflaumen wachsen mir in den Mund, reife, rote Äpfel fallen ins Gras, Spätsommerblumen, Blumen, wie ich sie nie gesehen habe, blühen in frühen Herbstfarben, und ein paar unscheue Hasen sitzen um mich herum. Sie hoppeln erst fort, als ich ihn wieder stöhnen höre, er stöhnt mir sein wolgadeutsches Schicksal vor. Noch vor der Zwangsumsiedlung sei er an der Wolga geboren und als Kleinkind nach Sibirien deportiert worden, Stalin sei Dank, die ersten Winter seien grausam gewesen, er sei in einem Erdloch aufgewachsen, umgeben von Leichenbergen, der Mensch muß alles durchmachen, sagt er zum zweiten, vielleicht auch schon zum dritten oder vierten Mal und fügt hinzu: Und Hoffnung muß sein, denn ohne Hoffnung is’ alles am End.

216
    In der Grundschule hatten wir zwei Spätaussiedlerkinder in der Klasse. Sie
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