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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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daß sie nicht Krankenschwester bleiben möchte, sondern lieber wieder auf dem Bauernhof ihrer Eltern arbeiten will, eines Tages werde sie den übernehmen. Nach den Kühen im Stall müsse sie dann ja auch in der Nacht sehen, das könne sie hier also schon üben. Ich bin, sage ich, solange gerne Ihre Übungskuh.
    Nach elf Wochen auf Station werde selbst die rauheste Schwester zärtlich, sagt mein Bettnachbar, letztes Jahr lag er elf Wochen hier.

221
    Krankenhauslangeweile, ich halte dich nicht mehr aus, ich halte mich nicht mehr aus – dann aber halte ich doch aus. Es ist eigentlich gar nicht so schlimm. Das Essen kommt pünktlich alle paar Stunden, hin und wieder kommt auch Besuch.

222
    Ich erinnere mich an die Atemtests vor einigen Jahren, frühmorgens hier im Virchow. Noch vor sieben Uhr hatte ich mich nüchtern einzufinden in einem fensterlosen Untersuchungsraum, einmal im Monat, ein ganzes Jahr. Um Punkt sieben pustete ich das erste Mal in einen Aluminiumbeutel und verschloß ihn mit einem Drehventil, trank eine hochkonzentrierte Malzzuckerlösung – schmeckte nicht gut, schmeckte überhaupt nicht gut, viel zu süß, ein ganzes Glas voll – und blies von da an jede halbe Stunde einen weiteren Aluminiumbeutel auf, immer zwei, drei Züge Atemluft: Stoffwechselabbauprodukte und damit auch die Leberleistung lassen sich in der Atemluft messen. Es war ein Forschungsprojekt, für das B. mich verpflichtet hatte, machte ich gerne, ich mußte ja bloß in diese Beutel blasen. Hatte ich einen gefüllt, stellte ich die Eieruhr wieder auf eine halbe Stunde und legte mich auf die Untersuchungsliege, las oder schlief ein. Gegen vierzehn Uhr blies ich in den letzten der fünfzehn akribisch beschrifteten Alubeutel, der Arzt, der die Studie betreute, trug sie in zwei großen Müllsäcken, lauwarme Luft ist ja nicht schwer, in sein Labor und untersuchte dann ein paar Tage lang meinen in Beuteln abgepackten Odem. Mir gefiel diese Tätigkeit, Einhauchen, Aushauchen, leider wurde ich nicht dafür bezahlt. Heute gibt es einen standardisierten Atemluft-Leberfunktionstest, er dauert nur noch eine Stunde.

223
    Eine Ärztin kommt mit offenem Kittel ins Zimmer, steht an meinem Bett, spricht mit der Schwester und fragt mich etwas, das ich nicht verstehe. Ich verstehe es nicht, weil ich, seit sie sich in diesem Raum befindet, auf ihre großen Schamlippen starren muß, die sich deutlich, überdeutlich unter dem Stoff ihrer Hose abzeichnen.
    Eine Kostümbildnerin hat mir einmal von einer Schauspielerin erzählt, die eines Tages zu ihr kam und sie bat, ihr alle Hosen so zu ändern, daß genau dieser Effekt eintrete. Die Kostümbildnerin wunderte sich, konnte ihr aber helfen.
    Mit Rebecca, das muß während ihres letzten Besuchs in Paris gewesen sein, war ich auf der Jahresausstellung einer Kunsthochschule, wo wir Mösenabgußsets bestaunten. Diese Mösenabgußsets – Idee einer Künstlerin, die ein paar hundert davon an Ort und Stelle hinter einem Klapptisch verkaufte – bestanden aus einer kleinen Tube Rasierschaum, einem Einwegrasierer, einem Döschen Vaseline, einem Tütchen Gips und dem Karton, in den, halbgeöffnet und mit angerührtem Gips gefüllt, die Formgeberin ihre Möse pressen sollte. Wir kauften ein Set und hatten zu Hause natürlich nichts Besseres zu tun, als gleich einen Abguß herzustellen. Ihre Möse in Gips, das war Rebeccas Abschiedsgeschenk. Bis er mir, ich weiß nicht mehr, wie oder wo, abhanden kam, war dieser Würfel mit Gesicht ein schöner Briefbeschwerer.

224
    Sprich, liebes Bett auf Rädern, sprecht mit mir, liebes Fenster, lieber Nachtschrank, liebe Notruftaste, lieber Tisch. Erzählt mir alles, liebe Lampe mit Energiesparleuchte, liebes schäbiges Licht. Sprich mit mir, liebe Matratze, sprecht mit mir, liebe Bettdecke, lieber Bettbezug, sprecht auch ihr lieben dünnen blau-grünen Streifen. Sag was, lieber Galgen, und du auch, leergetropfte Flasche Antibiotikum, sprecht, liebe Zimmerdecke, liebe Nische zum Fenster, lieber Wandschrank, liebes Regal mit den grünen Pappkartons, drei übereinander, in denen Einweghandschuhe in den Größen S, M und X liegen, Buchstaben, die mir ganz anderes versprechen wollen, sprich, lieber Antiseptspray, sprich, lieber Verbandsmull, und sprich, lieber Sicherheitskanister für kontaminierte Abfälle, liebe Geräteleiste mit Sauerstoff- und Druckluftanschluß, sprich mit mir, liebes Kopfkissen, auf dem dieser Kopf liegt und schläft und spinnt und verzweifelt und manchmal auch
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