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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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vertreibt meine Antriebslosigkeit nicht mehr. Schade. (Das Wort belebend klingt heute beinah einschläfernd, nach Kaffeereklame aus dem letzten Jahrhundert.)
    *
    Mein Gott, ein junger Mann wie Sie, warum sind Sie denn so müde?, fragt der alte Mann. Kann ich Ihnen leider nicht erklären.
    *
    Bin ich vielleicht so müde, weil ich stellvertretend für meinen Großvater müde bin? Weil er so selten Zeit hatte, sich hinzulegen und zu schlafen? Weil er zu Fuß aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause gehen mußte? Hat er mir seine Müdigkeit übertragen? Muß ich für ihn müde sein?
    *
    Fühlt sich an, als hätte jemand auf meine Kosten gelebt. Oder war ich das selbst?
    *
    Eine erstickende, erdrosselnde, erschlagende Müdigkeit überfällt mich, nachdem ich das Kind ins Bett gebracht habe. In diese Müdigkeit mischt sich die Lust, mich zu betrinken. Ich glaube, meine Eltern haben das so gemacht. War ich im Bett, wurden Weinflaschen geöffnet.
    *
    Als Kind bewunderte ich die Fähigkeit der Erwachsenen, sofort einschlafen zu können. Mein Vater legte sich hin, schloß die Augen – und schlief. Das Einschlafen mußte ihm beim Ausruhen auf einem Gedankenstrich passiert sein. Heute ist es umgekehrt: Das Kind schläft sofort ein, und ich, der Erwachsene, liege stundenlang wach, weil ich an dies und das und dazwischen noch an tausend andere Dinge denken muß.
    *
    Dann schlafe ich doch ein und wache gleich wieder auf. Und frage mich, ob es meine Müdigkeit war, die mich geweckt hat. So ein Quatsch.
    *
    Ich bin müde von all den Sorgen, die ich mir mache. Es ist dein schlechtes Gewissen, das dich nicht schlafen läßt, höre ich meine Mutter sagen. Ach so.
    *
    Die Müdigkeit des Nichtstuns – ist es vielleicht das Menschlichste am Menschen, daß er sich sagen kann: Ich bleibe liegen, heute mache ich nichts, ich warte einfach ab, stehe nicht auf, ich bin nun ein Oblomow?
    *
    Der Mensch steht aber auch auf, obwohl er noch hundemüde ist. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Tiere das tun, Tiere stellen sich doch keinen Wecker.
    *
    Hunde schlafen viel, Giraffen hingegen fast gar nicht. Auf der Skala der Schlafdauer verschiedener Säugetiere besetzt der Mensch ungefähr die Mitte. Ist es den Giraffen einfach zu anstrengend, sich hinzulegen und wieder aufzustehen, verbrauchen sie dabei zuviel Energie? Schlafen ihnen am Boden gar die Beine ein? Hat ihr Wenigschlafen mit ihrem langen Hals zu tun? Müßten Giraffen nicht immerzu furchtbar müde sein? Oder haben sie am Ende keine Zeit zu schlafen, weil sie immerzu fressen müssen, jeden Tag an die dreißig Kilo Blätter, wozu sie sechzehn bis zwanzig Stunden brauchen?
    *
    Müßte der Mensch so ausgiebig essen wie die Giraffe, er käme zu nichts anderem mehr. Er hätte keine Zeit, Kathedralen, Flugzeuge und Krankenhäuser zu bauen, keine Zeit, Bücher zu lesen und zu schreiben, keine Zeit für Kino oder was weiß ich.
    *
    Eine Taschenmaus braucht zwanzig Stunden Schlaf. Werden die meisten Taschenmäuse im Schlaf gefressen?
    *
    Die Geschichte meiner Müdigkeit ist die Geschichte meiner Schlaflosigkeit. Es stimmt ja gar nicht, daß, wer sehr müde ist, besser schlafen oder besser einschlafen kann. Stimmt einfach nicht.
    *
    Ich bin müde ohne jeden Grund.
    *
    Die schönste Müdigkeit ist die spanische, zu der ich tengo sueño sagen kann. Das Spanische macht aus jeder Müdigkeit einen Traum.
    *
    Und dann ist da diese unwahrscheinlich angenehme Müdigkeit, sonntags morgens, die ganz fließend in die Sonntagnachmittagsmüdigkeit übergeht. Wie schön es sein kann, mühelos von einer Müdigkeit in die nächste zu gleiten.
    *
    Komisch, daß das Wasser in Wasserfällen nicht müde wird zu fallen, denke ich, als ich ein Bild der Niagarafälle sehe.
    *
    Ist das Nicht-mehr-Wollen nicht viel menschlicher als das Immer-weiter-Wollen? Welches Tier kann schon beschließen aufzugeben?
    *
    An was denke ich eigentlich, wenn ich müde bin? Kann ich dann überhaupt etwas denken? So ein flauschiger Zustand.
    *
    Ist überhaupt noch etwas in meinem Kopf? Überraschung, hier herrscht Leere. Und diese Leere ist fast schon wieder interessant – wenn ich denn die Energie aufbringen könnte, mich dafür zu interessieren.
    *
    Ist es Müdigkeit mangels Sauerstoff? Bekomme ich nicht genügend Luft? Ersticke ich langsam hier auf Erden? Bin ich vielleicht, schöne Illusion, für andere Sphären gemacht?
    *
    Die Müdigkeit ist ein Berg, den ich hinabrolle, ist ein tiefes Tal, ist eine Ebene, weit und leer und karst
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